Yoko Tawada: "Sendbo-o-te"
Roman
Aus dem Japanischen übersetzt von Peter Pörtner
Konkursbuch Verlag Claudia Gehrke, Tübingen 2018
197 Seiten, 12,90 Euro
Düstere Utopie mit poetischen Wendungen
Kinder werden krank geboren, Alte können nicht sterben: "Sendbo-o-te" von Yoko Tawada spielt in einem völlig abgeschotteten Japan nach einer Katastrophe. Der neue Roman der japanischen Autorin ist trotz unheimlicher Aussichten ein Lesegenuss.
Die japanische Lyrikerin und Autorin Yoko Tawada lebt seit Anfang der 80er-Jahre in Deutschland und ist für ihre Werke vielfach ausgezeichnet worden. Sie schreibt und dichtet sowohl auf Japanisch als auch auf Deutsch. Ihren neuen Roman "Sendbo-o-te" habe sie auf Japanisch geschrieben, weil er in Japan spiele und die Veränderung der Sprache einen großen Raum einnähme, sagt Yoko Tawada. Mit der Übersetzung ihrer oft komplizierten Wortspiele durch den Japanologen Peter Pörtner sei sie sehr zufrieden.
Alle Verbindungen zum Rest der Welt gekappt
Die Leichtigkeit der Sprache, die poetischen Bilder und oft ungewöhnlichen, amüsanten Wendungen machen diese überaus düstere Utopie zu einem erfreulichen Lesegenuss. "Die arme Waschmaschine durchlief alle Leiden, wenn sie diese schweren Tücher im Kreis in ihrem Bauch herumwälzen musste. Das nahm sie so mit, dass sie nach drei Jahren, völlig erschöpft, an Überarbeitung starb. So sind eine Million toter Waschmaschinen auf den Grund des Pazifiks gesunken, wo sie den Fischen als Kapselhotels dienen." Nun gibt es nur noch ganz kleine Handtücher, die schnell im Wind trocknen.
Die Geschichte spielt in einer unbekannten Zukunft nach einer Katastrophe. Japan hat alle Verbindungen zur Außenwelt gekappt. Der "Nichtgebrauch von Dingen" ist erstrebenswert, durch Kontamination sind die meisten Tiere ausgestorben, Pflanzen mutiert, auch die Menschen haben sich verändert. Geschlechtergrenzen verwischen sich, Kinder werden krank geboren, sind aber ausgeglichen und fröhlich, und die Alten können nicht sterben. Es gibt die jungen Alten ab 70 Jahren, die mittleren und die echten Alten, die über 100 Jahre alt sind.
Werden die Menschen zu Kraken?
Sie sind besonders rüstig und belastbar, wie auch Yoshiro. Früher war er Autor und Journalist, deshalb hat er noch viele der inzwischen verbotenen oder unbrauchbaren Worte im Gedächtnis. Er erinnert sich an Reisen, fremde Länder und Sprachen. Nun ist sein Leben häufig wie "ein Feld voller Sorgensprösslinge". Doch sobald er mit seinem Urenkel Mumey zusammen ist, dessen Versorgung er seine ganze Zeit und Energie widmet, fühlt er sich wieder frisch und froh.
Mumey kämpft mit dem täglichen Alltag, das Anziehen ist eine Tortur und erfordert seine ganze Kraft. Mit seinen brüchigen Zähnen kann er kaum feste Nahrung zu sich nehmen, aber auch viele Flüssigkeiten bereiten ihm Schwierigkeiten. Mit seinen weichen Knochen und verdrehten Beinen schafft er nur wenige Schritte. Aber Jammern und Kummer sind ihm unbekannt. Ganz pragmatisch fragt er sich, ob sich die Menschen zukünftig in Kraken verwandeln werden. Auch Yoshiro würde die Welt gern einmal mit den Augen eines Kraken sehen.
Geheime Verschickung der Kinder ins Ausland
Durch die Kinder und ihre Sichtweisen stellt Yoko Tawada vieles, was uns selbstverständlich erscheint, infrage und regt zum Nachdenken an.
Sie erzählt von der Unentrinnbarkeit des Lebens und doch gibt es eine kleine Lücke in dem geschlossenen System. Besonders intelligente und einfühlsame Kinder sollen von einer Geheimorganisation mit Booten ins Ausland geschickt werden, als "Sendboten", um andere Länder auf mögliche Katastrophen vorzubereiten.
Die naheliegende Assoziation zu Fukushima und die historische Anspielung auf die Edo-Zeit im 17. und 18. Jahrhundert, in der sich Japan schon einmal weitgehend von der Umwelt isoliert hat, verleihen diesem fantastischen Roman einen erschreckenden Realitätsbezug.