"Wenn ich politisch aktiv werden möchte, dann jetzt"
joh. hat einen unheilbaren Hirntumor. Auf dem YouTube-Channel "zimtkopfliest" teilt joh. Gedanken, Sorgen und Ängste und erzählt vom Leben mit der Krankheit. joh. nutzt den Channel aber auch für politisches Engagement - nach dem Motto: jetzt oder nie.
"Heyhey, es war für heute eigentlich gar nicht geplant, dass wir uns sehen, aber manchmal kommt das Leben einfach so dazwischen…"
Hier spricht joh. zum Youtube-Publikum. Hellwache, klare Augen, direkter Blick in die Kamera.
"Ich hab am Montag, heute ist Freitag, meinen allerersten epileptischen Anfall bekommen. Ich habe ja einen Hirntumor und deshalb rechne ich insofern damit, dass immer mal wieder neurologische Ausfälle kommen…"
Im YouTube-Kanal "zimtkopfliest" gewährt joh. Einblicke in das Leben mit bösartigem Hirntumor. Die Videos sind für joh. Teil der Bewältigung, auch wenn dafür immer etwas zeitliche Distanz notwendig ist. Im "Gewitter" zu produzieren, sagt joh., sei unmöglich.
"Ich muss dafür kämpfen, dass ich den Anfall wirklich nur als Anfall lese und mir bewusst mache, dass ein geschädigtes Hirn sowas eben produzieren kann und dass es nicht heißt, dass ich in einem halben Jahr tot bin. Und das ist nicht so leicht."
Begonnen hat alles mit einem Blog
Ungeschönt teilt joh. Informationen, Gedanken, Sorgen und das Leben. Begonnen hatte joh.s Präsenz im Internet eigentlich mit einem Blog während eines Auslandssemesters in Norwegen. Zurück zuhause, die Taschen noch nicht ganz ausgepackt, kann joh. auf einmal nicht mehr lesen, hat heftigste Kopfschmerzen. Diagnose Krebs, ein Glioblastom, unheilbar. Die durchschnittliche Überlebenszeit beträgt 17,1 Monate. Auf einmal geht alles ganz schnell: Operation, Bestrahlung, Chemotherapie, kurz darauf ein Rezidiv des Tumors. Wieder Chemotherapie. joh. nutzt den Blog zunächst, um Freunde und Bekannte auf dem Laufenden zu halten. Immer wieder alles persönlich zu erzählen, mache mürbe.
"Und dann war es mir einfach eine Hilfe, Sachen auch aufzuschreiben und ein bisschen zu reden, aber dann auch einfach zu sagen: Kannst du vielleicht kurz einfach da gucken? Dann ist man auf einem Stand, und wenn du Fragen hast, dann frag gerne…"
joh. wechselt vom Text zum Medium Video, weil Sichtfeldeinschränkungen das Lesen und Schreiben erschweren.
"Ich glaube, ich bin schriftlich ja eigentlich besser als vor einer Kamera, aber hab mich da so reingerutscht. Und über das Video sind einfach ganz viele Menschen dazugekommen."
Im Internet fand joh. die eigene Perspektive nicht: Kaum einmal Raum für Mutlosigkeit, Zweifel, Depression. joh. möchte deshalb zeigen, dass auch die dazu gehören und Betroffene darin bestärken, eigene Entscheidungen zu treffen.
Zehntausende Abrufe der Video-Clips
"‘Und du schaffst das schon. Du musst nur kämpfen und wenn du dich richtig anstrengst, dann wirst du überleben.‘ Dem eine andere Perspektive entgegenzusetzen, die viele Betroffene haben und oft nicht aussprechen können."
Es bedeutet joh. viel, wenn es gelingt, anderen mit den Videos zu helfen. Es gibt eine inzwischen recht große Community, die sich auch in Kommentaren austauscht. joh.s Video beispielsweise, in dem es um einen Abbruch der Chemotherapie geht, hat mehr als 53.000 Abrufe.
"Und diese Gedanken haben in meine Entscheidung mit hineingespielt, einfach, weil mir immer bewusster wurde, dass ich Lebensqualität deutlich vor Lebenszeit stellen möchte. Ich will nicht mehr. Der Preis ist mir zu hoch geworden und ich will keine Chemotherapie mehr. Das sage ich jetzt. Ich habe in zwei Wochen wieder ein MRT und rasende Angst, weil ich eben keine Chemotherapie genommen habe."
Ambivalenzen, Abwägungen und Zweifel teilt joh. reflektiert – vor dem Hintergrund klarer schulmedizinischer Betreuung und Aufklärung – und verwehrt sich gegen Tipps und Heilsversprechen.
"Jeden einzelnen Tag bekomme ich sehr viele Nachrichten von Leuten, die meine Entscheidungsfreiheit über meinen Körper nicht akzeptieren wollen. Da wird mir gedroht, da werde ich beleidigt, gedemütigt oder mir werden ungefragt Tipps gegeben, wie ich meinen Krebs alternativ behandeln kann. Das macht mich unglaublich wütend."
Eine Situation wie eine tickende Zeitbombe
Wer joh. bei Youtube besucht, entdeckt auch ganz andere Themen: Veganismus, Hierarchien, Queerfeminismus. joh. hat sich selbst vor einiger Zeit als non-binary/non-binary-trans geoutet, identifiziert sich also weder als Mann noch als Frau. joh. möchte mit der Produktion von Videos wirksam sein, gestalten und so auch mit einer Form politischer Bildungsarbeit aktiv sein. Jetzt.
"Es steht auf jeden Fall in einem direkten Zusammenhang mit der Prognose, die einfach sehr ungünstig ist mit einem Glioblastom – und das einfach heißt, wenn ich politisch aktiv werden möchte, dann ist eben jetzt der Zeitpunkt. Und ich weiß nicht, wann das aufhört."
Aktuell ist die Situation stabil und fühlt sich doch an wie eine tickende Zeitbombe. joh. geht mit der eigenen Situation radikal-realistisch um, hat einen Antrag auf Suizidbegleitung bei einer Schweizer Stiftung gestellt, Verfügungen und Testamente geschrieben. Vor der Produktion eines bestimmten Videos fürchtet sich joh. allerdings: dem letzten, das eine vertraute Person veröffentlichen soll. Nach joh.s Tod.
"Also alles ist geplant, aber da ist ein Punkt, vor dem ich wirklich Angst habe. Ich glaube, mich selbst zu sehen, in einem Bild und daran zu arbeiten. Was dann… Also was soll mein letztes Bild wirklich sein? Es vielleicht noch mal eine andere Nummer für mich. Mich in Bewegung zu sehen und dann zu wissen: Das ist der Abschluss."