Überstehen junge Menschen noch 90 Minuten - und mehr?
Acht Stunden dauert der längste Wettbewerbsfilm der Berlinale-Geschichte, der in diesem Jahr läuft. Ist das überhaupt zeitgemäß angesichts einer jungen Generation, die mit Youtube-Schnipseln aufwächst? Holger Hettinger begibt sich auf eine überraschende Spurensuche.
Meine Meinung? Das cineastische Abendland geht spätestens in 20 Jahren unter. Dann nämlich dominiert nämlich jener Personenkreis an der Kinokasse, der heute Anfang bis Mitte 20 ist. Ich kenne diese Altersgruppe gut, sie sitzt jeden Tag in meinen Seminaren und Lehrveranstaltungen. Taffe junge Menschen, technikaffin, schnell im Kopf.
Sie können ganz viel – nur eines nicht, so meine Erfahrung: sich über einen längeren Zeitraum auf einen Film konzentrieren. Manche haben die Aufmerksamkeitsspanne einer Stubenfliege, schwimmen mit den Gedanken sofort weg, wenn ich vorne nicht abwechslungsreich genug zappele, wirbele, performe. Und wenn ich einen 60-Minuten-Film zeige, zur Abwechslung, sagen sie: das war nun aber anstrengend. Sooooo lang!
Woher das kommt, ist klar: die Medienhäppchen, in die heutzutage Unterhaltung und Information zerlegt ist, lassen längere Formate schwer verdaulich erscheinen. Und das sind dann die Momente – damit wären wir wieder bei der Berlinale -, in denen ich mich frage: wird diese Generation Youtube jemals einen soliden Langfilm sehen? Also: den ganzen Film, nicht nur den Trailer. Ich bin pessimistisch. Wie gesagt: Untergang des cineastischen Abendlandes, in 20 Jahren, spätestens.
Doch noch Hoffnungen?
Bevor ich mich in meinen Vorurteilen einrichte, frage ich doch lieber den Personenkreis, dem ich so skeptisch begegne. Sven ist 24 Jahre alt, Medienstudent, und, ja, einer dieser Menschen, die sehr virtuos mit dem Smartphone umgehen – ob der wohl weiß, dass Filme existieren, die man in vorangegangenen Generationen einmal als "abendfüllend" bezeichnet hat?
"Also, wenn ich mich persönlich anschaue, würde ich sagen, dass es genau den umgekehrten Effekt hat, als man vielleicht vermuten könnte. Ich glaube, wenn wir angucken, wie wir heute Video konsumieren, und das ist ja bei jungen Leuten häufig über die Facebook-Timeline, über Mini-Snippets, auf Twitter, über kurze Anreißer auf Instagram, dann ist ja alles extrem kurz. Und da könnte man ja vermuten, dass man sich auf lange Dinge überhaupt nicht mehr einlassen kann. Ich muss sagen, bei mir ist es genau das Gegenteil – ich habe aufgrund dieser Gleichschaltung, die man da erlebt Richtung Kürze, eigentlich den Eindruck, dass mehr der Bedarf danach entsteht."
Das klingt jedenfalls hoffnungsspendender, als ich das in meiner pessimistischen Weltsicht vermutet habe.
Wenn die Dinge vorhersehbar werden
Gestern Morgen dann: ein Selbstversuch auf der Berlinale. Ulrike Ottingers gewaltiges Filmprojekt "Chamissos Schatten" besteht aus drei Kapiteln, 709 Filmminuten insgesamt – eine bildgewaltige Reisereportage auf den Spuren der großen Abenteurer und Forscherpersönlichkeiten Humboldt und Chamisso – man blickt auf majestätische Landschaften, umwerfende Lichtsituationen – und begegnet Menschen, die stolz von ihrer Heimat, der dem Behringmeer, erzählen:
Die Bilder sind mit großer Gelassenheit gesetzt, die Kamera steht still, und nach einer gewissen Zeit stellt sich ein eigenartiger Effekt ein, eine Art geänderte Wahrnehmung – die Zeit scheint zu kreisen, der Atem verlangsamt sich, man wird eingesogen von diesen meditativen Bildern, wird eins mit den Jägern und den Fischern
Das sind Momente, in denen man nicht nur einen Film sieht, sondern sich selbst auch ein Stück weit neu erlebt. Ich hatte ganz vergessen, wie das ist, wenn man sich auf ein derart langes, gelassenes Erzählen einlässt – und bin sehr optimistisch, dass dieses Gefühl des langen filmischen Atems auch von Generationen geschätzt werden wird, die mit dem Kurzclip aufgewachsen sind. Das sieht auch Sven so, und ich habe berechtigten Anlass zu vermuten, dass er das nicht sagt, um mir einen Gefallen zu tun:
"Gerade wenn man sich mal die klassischen Hollywood-Filme anschaut mit dieser klassischen 110-Minuten-Formatierung, dann habe ich 20 Minuten vor Ende das Gefühl: das ist jetzt auch 20 Minuten vor Ende. Also es werden die Dinge so vorhersehbar, dass diese oder jene zeitliche Abfolge jetzt kommen wird – also ich freue mich, wenn ich mehr in die Tiefe gehen kann, weil ich immer im Alltag immer nur kurze Ausschnitte, kurze Snippets sehe."