Zäsur der deutschen Geschichte

Rezensiert von Michael Opitz |
In seinem neuen Roman "Sommergewitter" fragt Erich Loest nach den Gründen und dem Verlauf des Arbeiteraufstandes von 1953. Neben der sehr genauen Rekonstruktion der politischen Ereignisse in der ostdeutschen Provinz ist Loests Aufmerksamkeit auf die menschlichen Schicksale gerichtet. Doch zu sehr bewegt Loest sich mit "Sommergewitter" in bekannten Milieu- und Sozialkoordinaten.
Es hat mehr als fünfzehn Jahre gedauert, bis Stefan Heyms Roman "Fünf Tage im Juni" nach seiner Fertigstellung (1958) 1974 in der Bundesrepublik erschien und weitere fünfzehn Jahre, bis das Buch 1989 in der DDR veröffentlicht werden durfte. Inzwischen liegen eine Unmenge von Publikationen über den für die Entwicklung im Osten Deutschlands so folgenreichen 17. Juni vor, wobei auch die von Heym 1973 formulierte These bestätigt wurde: "Auf beiden Seiten ist der 17. Juni umgelogen worden!"

Stephan Hermlins Geschichte über die Befreiung der vermeintlichen KZ-Aufseherin Erna Dorn aus dem Gefängnis, von der "Die Kommandeuse" handelt, ist dafür ein literarisches Beispiel.

In seinem neuen Roman "Sommergewitter" – in dem auch Erna Dorn neben anderen Zeitgenossen eine Rolle spielt – fragt Erich Loest, der spätestens seit der Veröffentlichung des in den Wendezeiten von 1989 angesiedelten Romans "Nikolaikirche" als deutsch-deutscher Chronist gelten kann, nach den Gründen und dem Verlauf des Arbeiteraufstandes von 1953.

Neben der sehr genauen Rekonstruktion der politischen Ereignisse in der ostdeutschen Provinz – die Handlung spielt in Bitterfeld und Halle – ist Loests Aufmerksamkeit auf die mit dieser Zäsur in der deutschen Geschichte verbundenen menschlichen Schicksale gerichtet. Der Autor entwirft ein sehr umfangreiches Figurenensemble, das es ihm ermöglicht, eine Vielzahl von Entscheidungssituationen zu entwerfen und daran die Beweggründe und Haltungen seiner Figuren im Kontext der Juni-Ereignisse durchzuspielen.

Bereits in "Nikolaikirche" hat Loest eine politische Umbruchsituation zum Anlass genommen, um zu zeigen, wie innerhalb der verschiedensten politischen Ebenen und auf Seiten der Bevölkerung mit einem einschneidenden geschichtlichen Ereignis umgegangen wird.

Auch in "Sommergewitter" stellt er dabei Menschen vor, die sich aus der politischen Umklammerung des Systems zu befreien vermögen und andere, die sich aus Eigennutz oder Verblendung noch enger an den Staat binden. Nach dem Abgesang auf das politische Gebilde DDR in "Nikolaikirche" verweist Loest in "Sommergewitter" darauf, dass sich dieser Untergang bereits 1953 unübersehbar ankündigte.

Da sich Erich Loest bei der Rekonstruktion der Ereignisse um den 17. Juni stark an das Realgeschehen hält, zeigt sich eine gewisse Nähe des Romans zu Heyms "Fünf Tage im Juni". Auch wenn sich die beiden Texte im Einzelnen sehr wohl unterscheiden, es gelingt dem Buch von Loest nicht, aus dem Schatten des vor nunmehr 30 Jahren erschienen Vorgängers herauszutreten. Zu sehr bewegt er sich mit "Sommergewitter" in bekannten Milieu- und Sozialkoordinaten, vermisst man den neuen, Erkenntnis fördernden Zugriff auf das Thema.

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