Zäsuren im Alltag

In dem Erzählungsband "Wir fliegen" beschreibt Peter Stamm Figuren, deren Lebenswirklichkeiten die Tendenz aufweisen, sich im Belanglosen zu verlieren. Doch ungewöhnliche Ereignisse verändern ihren Alltag.
Der Schweizer Autor Peter Stamm (geb. 1963) stellt in seinem 2006 erschienenen Roman "An einem Tag wie diesem" die Frage, ob es normal ist, aus einem Leben zu fliehen, das einem leer vorkommt, oder ob nicht durch diese Flucht eine zuvor nur gefühlte Leere erst Wirklichkeit wird.

Andreas lässt sein bisheriges Leben hinter sich, weil es deutliche Ähnlichkeiten zu den einförmigen und unerheblichen Lebensläufen aufweist, die sich Lehrbüchern für den Fremdsprachenerwerb finden. Ob ihm noch Zeit bleibt, sein Leben zu ändern, diese Frage lässt Stamm unbeantwortet. Am Ende wissen wir nicht, ob Andreas vom alltäglichen Leben oder vom alltäglichen Sterben eingeholt wird.

Auch in dem neuen Erzählungsband "Wir fliegen" erweist sich Peter Stamm als Entdecker und Beschreiber alltäglicher Ereignisse, von denen sich nicht genau sagen lässt, ob sie als Zeichen einer bereits zur Normalität gehörenden Katastrophe zu sehen sind oder an deren Beginn stehen. Die zwölf Geschichten, die der Band vereint, haben etwas Gemeinsames: Stamm beschreibt Figuren, deren Lebenswirklichkeiten die Tendenz aufweisen, sich im Belanglosen zu verlieren.

Doch unspektakuläre Ereignisse sorgen für Irritationen. In der Erzählung "Die Erwartung" gehören die Geräusche, die Daphne von der über ihr wohnenden Mieterin hört, zu ihrem Lebensalltag – sie sind ihr vertraut. Als sie nach einer längeren Phase der Stille plötzlich wieder etwas hört, ist sie überrascht und klingelt bei der Nachbarin. Zu ihrer Verwunderung öffnet aber nicht eine ältere Frau, sondern ein junger Mann. Zwischen ihr und Patrick entwickelt sich eine Beziehung, die bizarr bleibt. Daphne scheint Patrick am nächsten zu sein, wenn sie hört, wie er sich in seiner Wohnung bewegt. Dann denkt sie sich in sein Leben hinein. Diese Nähe bewährt sich durch Distanz. Denn wenn sie beieinander sind, scheinen sie weit voneinander entfernt zu sein.

Peter Stamms Geschichten handeln von existentiellen Erschütterungen. Ob seine Protagonisten allein oder zu zweit sind, stets werden sie durch unvorhergesehene Ereignisse mit Grundfragen ihres Lebens konfrontiert. In der Erzählung "Der Brief" findet Johanna viele Jahre nach dem Tod ihres Mannes Briefe, durch die sie erfährt, dass ihr Mann ein Doppelleben geführt hat. Sie lernt ihn durch die Briefe seiner Geliebten von einer gänzlich unbekannten Seite kennen. Diese Erfahrung verändert das Verhältnis zu dem Verstorbenen nachträglich. Indem sie glaubt, dass ihr Mann aus einem "Überschuss aus Liebe und Neugier" fremd gegangen ist, definiert sie im Rückblick ihre Beziehung neu.

In den besten der Erzählungen aus dem Band "Wir fliegen" lässt Stamm seine Figuren zu Einsichten finden, die alles andere als einsichtig erscheinen. Der Reim, den sie sich auf die Zäsuren machen, klingt ungewöhnlich. Das macht den Reiz von Stamms Geschichten aus. Sie stören gerade in dem Alltag, dem sie ihre Herkunft verdanken. Peter Stamm ist meisterhaft im Erfinden alltäglicher Kleinigkeiten, von denen seine Figuren wie von Geschossen getroffen werden.

Rezensiert von Michael Opitz

Peter Stamm: Wir fliegen
Erzählungen. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2008
175 Seiten, 17,90 Euro.