Zahl der Depressionen steigt aufgrund besserer Diagnosen

Moderation: Maike Albath |
Dass immer mehr Menschen zu Antidepressiva greifen, liegt nach Meinung von Ulrich Hegerl auch daran, dass Depressionen besser erkannt werden und Betroffene sich eher trauen, Hilfe zu holen. Der Professor für Psychiatrie betonte im Deutschlandradio Kultur, dass eine Behandlung mit Medikamenten mitunter sinnvoll ist, da eine Depression auch körperliche Ursachen haben kann.
Albath: Insgesamt greifen doch mehr Menschen zu Psychopharmaka - ist das nun eine gefährliche Entwicklung, oder ein Zeichen des medizinischen Fortschritts? Darüber wollen wir jetzt diskutieren mit einem Teilnehmer der Tagung des Nationalen Ethikrates zum Thema Depression und Hyperaktivität, die heute Morgen beginnt. Und dieser Teilnehmer ist der Professor für Psychiatrie, Ulrich Hegerl. Guten Tag.

Hegerl: Guten Morgen.

Albath: Herr Hegerl, Sie sind ab 1. Dezember der neue Direktor der Uniklinik in Leipzig und Sie sind auch der Sprecher des Kompetenznetzes Depression, das ist eine medizinische Einrichtung, die sich um die Vernetzung von Patientenversorgung und Forschung kümmert. Wie ist denn Ihre Einschätzung? Es greifen offensichtlich immer mehr Menschen zu Medikamenten. Haben Sie den Eindruck, dass der Rezeptblock heute einfach lockerer sitzt bei den Ärzten?

Hegerl: Ich glaube der Hauptgrund, dass manche Psychopharmaka, also Antidepressiva zum Beispiel, häufiger verschrieben werden, liegt daran, dass mehr Betroffene sich trauen sich Hilfe zu holen, also zum Arzt gehen, dass Depression auch besser erkannt wird von den Ärzten und dass deswegen mehr Patienten eine gute Behandlung erhalten. Man muss, wenn man über Depression spricht, sich immer fragen, was ist das eigentlich für eine Erkrankung, ist es eine körperliche, oder eine seelische. Das ist ja auch in dem Beitrag eben angeklungen. Und ich verwende bei meinen Patienten immer das Bild einer Medaille mit zwei Seiten. Ich sage Ihnen, jeden Menschen mit einer Depression, den kann man auf der psychosozialen Seite betrachten, da haben wir frühe Erlebnisse in der Kindheit, wir haben vielleicht Auslöser, Trauer, Verlusterlebnisse, Überforderungen. Und da haben wir die Psychotherapie.

Aber immer gibt es auch die andere Seite der Medaille, bei jedem einzelnen Menschen. Da spielt die Genetik mit eine Rolle, die die Empfindlichkeit zu erkranken beeinflusst, da spielen die Stresshormone und andere Botenstoffe wie das Serotonin eine Rolle. Und hier haben wir die Antidepressiva. Das heißt, es ist nicht entweder oder, oder auch die Vorstellung, das eine ist die eigentliche Behandlung, zum Beispiel die Psychotherapie und das andere ist nur an den Krankheitszeichen rumdoktern, das ist falsch.

Es hilft also zu sehen, dass es zwei komplementäre, zwei sich ergänzende Sichtweisen der gleichen Medaille sind, und das macht dann auch irgendwie verständlich, dass Antidepressiva eben auch eine kausale Behandlung sind, nicht nur an den Symptomen rumdoktern.

Albath: Aber nun ist es ja das schnellste und auch das billigste Mittel mit Medikamenten zu behandeln. Ist es nicht auch eine Gefahr, dass man da sehr bequem wird und weniger den Ursachen auf den Grund geht?

Hegerl: Ich wollte mit dem Bild der Medaille gerade zeigen, eine Dysfunktion der Botenstoffe ist ja auch die Ursache der Erkrankung Depression. Das ist genau so eine Ursache wie eben auf der anderen Seite der Medaille Stress und Verlusterlebnisse als Auslöser wirken können. Sie haben ja Menschen, die kippen innerhalb weniger Tage von der Depression in die Manie, dann wieder in die Depression. Da haben Sie keine äußeren Auslöser oder soziale Faktoren, die das Ganze erklären. Das müssen Sie schon sehr an den Haaren herbeiziehen. Es gibt Menschen, die kippen innerhalb einer Stunde in die Depression.

Albath: Ich habe auf Ihrer Website nachgelesen, da sind so Berichte von Personen, die betroffen sind, und häufig waren das eigentlich Geschichten, bei denen man den Eindruck hatte, es ist völlig normal, mit Depression zu reagieren, also Trauer um eine Trennung, Verlust von geliebten Menschen oder Arbeitsplatzverlust. Und da stellt sich bei mir doch so ein gewisser Zweifel ein, ob das nicht mit den Medikamenten doch so ein sehr technizistischer Umgang ist mit Erkrankungen.

Hegerl: Genau, es ist wichtig, worüber man spricht. Spricht man über sehr schwere Depressionen - und das ist das, was ich im Hinterkopf jetzt habe, schwere Depressionen - die sind häufig auch abgelöst von irgendwelchen äußeren Faktoren. Oder spricht man von Stimmungsschwankungen, von Trauer, von Problemen, die das Leben so bietet. Das sind ja keine medizinischen Erkrankungen, die müssen auch nicht behandelt werden mit Antidepressiva.

Und da gibt es auch noch einen Zwischenbereich, wo es dann nicht ganz einfach zu sagen ist, ist es jetzt krankhaft oder eigentlich eine nachvollziehbare Reaktion auf die bitteren Seiten des Lebens. Diesen Zwischenbereich gibt es auch und da ist es manchmal nicht so einfach zu sagen, wie man vorgeht, ob Psychotherapie richtig und angemessen ist, ob Antidepressiva richtig und angemessen sind, ob sie auch wirken. Da gibt es so einen Zwischenbereich, da stimme ich Ihnen zu.

Albath: Also Sie meinen, man müsste die Therapieformen dann auch kombinieren und könnte möglicherweise mit einem Medikament ansetzen, um dann noch psychotherapeutisch zu arbeiten. Oder würden Sie das dann auch mitunter ausschließen?

Hegerl: Wenn wir jetzt wieder Menschen sehen, die eine sehr schwere Depression haben, das sind Menschen, die sich oft gar nicht mehr selber versorgen können, die unter sehr, sehr hohem Leidensdruck stehen, dann ist es meistens so, dass man unter sehr schweren Depressionen zunächst durch ein Antidepressiva die Depression abklingen lässt oder zumindest lindert, und dann, wenn es dem Menschen wieder besser geht, überlegt, was gibt es denn für äußere Gründe, die jetzt hier mit eine Rolle gespielt haben und die man beeinflussen kann. Und da ist ein Verfahren die kognitive Verhaltenstherapie, eine Psychotherapie, die ihre Wirksamkeit recht gut belegt hat. Und die ist dann häufiger wichtig im Intervall, um zu verhindern, dass es erneut zu Zuspitzungen kommt.

Albath: Es gibt eine Studie des National Institutes of Mental Health und da wurde festgestellt, dass bis 30 Prozent von depressiven Patienten gar nicht auf Medikamente reagieren und dass 75 Prozent nach fünf Jahren einen Rückfall erleiden. Das scheint ja so ein bisschen dem zu widersprechen, was Sie über die Wirksamkeit der Medikamente sagen. Bedeutet das nicht, dass man in einen Zirkel kommt und immer wieder, nach einigen Jahren, neue Medikamente einnehmen muss?

Hegerl: Das Problem, dass nicht jeder Mensch auf eine Behandlung anspricht, das haben wir natürlich genauso in der Psychotherapie wie bei den Medikamenten. Das ist tatsächlich so, wie Sie sagen, dass die Medikamente besser sein könnten. Erstens wirken sie nicht sofort. Wenn Sie ein Schlafmittel nehmen, oder ein Schmerzmittel, das wirkt meistens innerhalb kurzer Zeit. Antidepressiva machen das nicht, sondern die muss man über längere Zeit, zwei Wochen etwa, einnehmen, bis man die positive Wirkung spürt.

Das andere Problem ist, dass sie nicht immer wirken und - Sie haben völlig Recht - das erste Medikament oft 30, manchmal auch 40 Prozent der Betroffenen nicht anspricht. Und man muss dann einen neuen Anlauf machen mit einem anderen Antidepressivum, das einen anderen Wirkansatz hat und erreicht dann aber in den meisten Fällen doch eine Lösung. Das heißt, man findet ein Medikament, das gut vertragen wird und die Depression zum Abklingen bringt, aber dass das keine Wundermittel sind, das ist völlig klar.

Albath: Sie sagten eingangs schon, dass es oft weniger gesellschaftliche Gründe habe, dass es so viele Depressionen gibt. Aber nun heißt es ja von der Weltgesundheitsorganisation, dass Depressionen in den Industrieländern ungeheuer angestiegen sind und dass das bis zum Jahr 2020 sogar die zweithäufigste Krankheit weltweit sein soll. Haben Sie denn dafür eine Erklärung, wenn es nicht die Gesellschaft ist?

Hegerl: Bei uns ist die gleiche Entwicklung festzustellen. Man sieht, dass die Zahl der Diagnosen ansteigt und der Grund dafür ist schwer zu sagen. Ob tatsächlich die Zahl der Depressionen zunimmt, wird Ihnen keiner beantworten können, am allerwenigsten die WHO. Die weiß das auch nicht, die basiert da immer mit ihren Berechnungen auf Zahlen, die ihr geliefert werden von den Ländern. Die Gründe dafür können zum Beispiel sein, dass mehr Menschen den Mut haben, weil es Aufklärungskampagnen gibt, sich Hilfe zu holen. Es kann sein, dass die Ärzte besser Depressionen erkennen und nicht nur die Kopfschmerzen und Rückenschmerzen - das sind ja meistens die Beschwerden, mit denen die Menschen kommen - nun diagnostizieren und behandeln, sondern merken, dahinter steckt eigentlich eine Depression.

Und weiter kommt hinzu, dass man Depression heute häufiger auch Depression nennt und nicht Burn Out oder Chronique Fatigue-Syndrom oder Fibromyalgie [wie gehört], denn das sind so Ausweichdiagnosen, hinter denen sich nicht selten eine Depression versteckt. Das sind alles Gründe, die dann zum Ansteigen der Zahl der Depressionen führt. Wenn man einmal die Zahl der Suizide nimmt, so gehen die ja zurück in Deutschland und übrigens am allersteilsten in den östlichen Bundesländern. Da gab es nach der Wiedervereinigung den steilsten Rückgang, obwohl sich die sozialen Verhältnisse für viele ja verschlechtert haben.

Albath: Wie ist es denn mit der Depression als Geschäft? Hinter den Medikamenten verbirgt sich ja auch wieder die Pharmaindustrie, die etwas verdienen will. Spielt die nicht auch eine Rolle bei dem Anstieg dieser Erkrankungen?

Hegerl: Ich muss noch einmal den Punkt, den bemerkenswerten Punkt doch noch einmal betonen, dass wir in ostdeutschen Bundesländern nach der Wiedervereinigung den steilsten Rückgang der Suizidraten in ganz Europa hatten. Wenn die Suizide, die ja sehr eng verknüpft sind mit Depressionen, ein Ausdruck der sozialen Verhältnisse primär sind, dann ist es zumindest nicht so, dass sie mit der Arbeitslosigkeit in Verbindung stehen, denn die hat ja plötzlich zugenommen, von null auf 20 Prozent. Und viele andere Dinge haben sich so verändert, dass Menschen ja doch in große Schwierigkeiten geraten sind. Trotzdem gingen die Suizidraten zurück und jetzt nicht, weil hier die Antidepressiva massiv mehr verschrieben wurden, das glaube ich nicht, dass das der Grund ist. Sondern ich wollte damit nur zeigen, dass es nicht so einfach ist, eine Beziehung herzustellen zwischen den äußeren Lebensbedingungen und Depressionen und Suizidalität. Das ist ein sehr komplexes Gebilde und das verhält sich nicht so, wie wir das immer gern uns denken.

Die Pharmaindustrie hat natürlich großes Interesse ihre Medikamente zu verschreiben und macht auch mit sehr großem Mitteleinsatz Marketing. Und das ist tatsächlich eine Gefahr, dass hier dann Behandlungen propagiert werden, oder einzelne Medikamente propagiert werden, die vielleicht nicht immer indiziert sind. Das ist tatsächlich etwas, wo man gegensteuern muss und hier ist in den letzten Jahren sehr viel passiert und die Möglichkeiten der Pharmaindustrie, hier Einfluss zu nehmen, sind etwas beschnitten worden.