Zauber und Schrecken der Kindheit
Mircea Cartarescu ist ein in Rumänien geborener Schriftsteller. 2007 erschien in Deutschland von ihm das Buch "Die Wissenden" als erster Teil der "Orbitor"-Trilogie. Jetzt, vier Jahre später, ist mit "Der Körper" endlich der zweite Teil auf Deutsch erschienen.
Mircea Cartarescus "Orbitor"-Trilogie ist eines der großartigsten, exzessivsten Werke der Gegenwartsliteratur, ein Roman wie "Fliegende Kathedrale”. Nach dem ersten Band "Die Wissenden" ist nun – in der geschliffenen Übersetzung Gerhardt Csejkas und Ferdinand Leopolds – das lang erwartete Mittelstück "Der Körper" auf Deutsch erschienen.
Jeder Versuch, die Handlung dieses überbordenden Buches zusammenzufassen, bleibt unzulänglich. Ein Schlüsselbegriff ist die "Nostalgie". Auch in diesem Band werden der Zauber und Schrecken von Kindheitserlebnissen eines gewissen Mircea beschworen, Alter Ego des Autors. Die mittlerweile schon legendäre Wohnmaschine an der Bukarester Stefan-cel-Mare-Chaussee ist die Bodenstation für phantasmagorische Erzähl-Expeditionen. Es sind Räume der Angst – die scheinbar endlosen Fahrstuhl- und Lichtschächte, die Treppenaufgänge voller Bauschutt, die Halden und Schattenbezirke hinter dem Block.
Auch in "Der Körper" gibt es essayistische Partien, die man als mystisch-surreale Wall of Words empfinden kann. Esoterik, Metaphysik und Naturwissenschaften gehen dabei eine eigenwillige Verbindung ein – Cartarescus aus tausend Theorien genährte Privat-Kosmogonie, durch die man sich wie ein profaner Wurm hindurcharbeiten muss, um schließlich zum beflügelnden, faszinierenden Lese-Erlebnis zu gelangen. Da werden im Rückgriff auf eine beinahe mythische Vorzeit orgiastische Schwitzbäder in der rumänischen Provinz und die heiligmäßigen Selbstverstümmelungsrituale der Skopzen geschildert.
Immer wieder verlieren sich die Figuren in zyklopischen Architekturen, und ein grandioses Kapitel widmet sich der Heimarbeit von Mirceas anrührend porträtierter Mutter Maria: Sie knüpft Teppiche, die immer größer, virtuoser und phantasmagorischer geraten und schließlich als Geheimschriften unfassbare Welt- und Staatsgeheimnisse enthalten – bis eine Gruppe verschwitzter Securitate-Männer an die Tür klopft. Ein Besuch im Staatszirkus, wo schafsgroße Flöhe Kunstsprünge vorführen, wird zum Akrobatenstück entfesselter Cartarescu-Fantasie.
Figuren aus dem ersten Band kehren wieder: darunter die irdische Engelsgestalt Herman, der oben im Block in seiner Junggesellenbude haust und den Tag der Erlösung herbeitrinkt. Er rettet Mircea einmal das junge Leben und wird selbst in eine mysteriöse Liebesgeschichte verstrickt, die vielleicht doch eher ein Horrorroman ist. Wichtig auch wieder die Geheimgesellschaft der "Wissenden", deren Spuren diesmal zu den "Statuenmenschen" nach Holland führen, in breughelsche Landschaften.
Manierismen, Zitate, Anspielungen – Cartarescu leidet nicht an Einflussangst. Sein Stil ist immer komplex und detailfreudig, aber der Ton wechselt zwischen Pathos und Burleske, letzteres vor allem im Blick auf rumänische Realität der Sechziger Jahre: wenn etwa das Teewasser auf dem umgekehrten Bügeleisen gekocht werden muss, weil das Gas abgestellt wurde, oder der beflissene Securitate-Leutnant Ion Stanila bei der Arbeit geschildert wird.
Ein Leitmotiv ist die Metamorphose. Über mehrere genialische Seiten wird aus der (allerdings ziemlich elaborierten) Perspektive eines Larvenwurms beschrieben, wie sich die wunderbare Verwandlung in die beflügelte Hirschkäfer-Existenz anfühlt: eine Parabel auf die astrale Sehnsucht. Cartarescu ist ein literarischer Maler und Beschreibungskünstler, seine Palette ein schier unendlich reicher Wortschatz. Riesenschmetterlinge und Monsterspinnen sind die Symbolgestalten eines manichäischen Weltgeschehens, das im dritten Band nur ein Ziel kennt: die Apokalypse.
Besprochen von Wolfgang Schneider
Mircea Cartarescu: "Der Körper"
Aus dem Rumänischen von Gerhardt Csejka und Ferdinand Leopold
Zsolnay Verlag, München 2011
607 Seiten, 26,00 Euro
Jeder Versuch, die Handlung dieses überbordenden Buches zusammenzufassen, bleibt unzulänglich. Ein Schlüsselbegriff ist die "Nostalgie". Auch in diesem Band werden der Zauber und Schrecken von Kindheitserlebnissen eines gewissen Mircea beschworen, Alter Ego des Autors. Die mittlerweile schon legendäre Wohnmaschine an der Bukarester Stefan-cel-Mare-Chaussee ist die Bodenstation für phantasmagorische Erzähl-Expeditionen. Es sind Räume der Angst – die scheinbar endlosen Fahrstuhl- und Lichtschächte, die Treppenaufgänge voller Bauschutt, die Halden und Schattenbezirke hinter dem Block.
Auch in "Der Körper" gibt es essayistische Partien, die man als mystisch-surreale Wall of Words empfinden kann. Esoterik, Metaphysik und Naturwissenschaften gehen dabei eine eigenwillige Verbindung ein – Cartarescus aus tausend Theorien genährte Privat-Kosmogonie, durch die man sich wie ein profaner Wurm hindurcharbeiten muss, um schließlich zum beflügelnden, faszinierenden Lese-Erlebnis zu gelangen. Da werden im Rückgriff auf eine beinahe mythische Vorzeit orgiastische Schwitzbäder in der rumänischen Provinz und die heiligmäßigen Selbstverstümmelungsrituale der Skopzen geschildert.
Immer wieder verlieren sich die Figuren in zyklopischen Architekturen, und ein grandioses Kapitel widmet sich der Heimarbeit von Mirceas anrührend porträtierter Mutter Maria: Sie knüpft Teppiche, die immer größer, virtuoser und phantasmagorischer geraten und schließlich als Geheimschriften unfassbare Welt- und Staatsgeheimnisse enthalten – bis eine Gruppe verschwitzter Securitate-Männer an die Tür klopft. Ein Besuch im Staatszirkus, wo schafsgroße Flöhe Kunstsprünge vorführen, wird zum Akrobatenstück entfesselter Cartarescu-Fantasie.
Figuren aus dem ersten Band kehren wieder: darunter die irdische Engelsgestalt Herman, der oben im Block in seiner Junggesellenbude haust und den Tag der Erlösung herbeitrinkt. Er rettet Mircea einmal das junge Leben und wird selbst in eine mysteriöse Liebesgeschichte verstrickt, die vielleicht doch eher ein Horrorroman ist. Wichtig auch wieder die Geheimgesellschaft der "Wissenden", deren Spuren diesmal zu den "Statuenmenschen" nach Holland führen, in breughelsche Landschaften.
Manierismen, Zitate, Anspielungen – Cartarescu leidet nicht an Einflussangst. Sein Stil ist immer komplex und detailfreudig, aber der Ton wechselt zwischen Pathos und Burleske, letzteres vor allem im Blick auf rumänische Realität der Sechziger Jahre: wenn etwa das Teewasser auf dem umgekehrten Bügeleisen gekocht werden muss, weil das Gas abgestellt wurde, oder der beflissene Securitate-Leutnant Ion Stanila bei der Arbeit geschildert wird.
Ein Leitmotiv ist die Metamorphose. Über mehrere genialische Seiten wird aus der (allerdings ziemlich elaborierten) Perspektive eines Larvenwurms beschrieben, wie sich die wunderbare Verwandlung in die beflügelte Hirschkäfer-Existenz anfühlt: eine Parabel auf die astrale Sehnsucht. Cartarescu ist ein literarischer Maler und Beschreibungskünstler, seine Palette ein schier unendlich reicher Wortschatz. Riesenschmetterlinge und Monsterspinnen sind die Symbolgestalten eines manichäischen Weltgeschehens, das im dritten Band nur ein Ziel kennt: die Apokalypse.
Besprochen von Wolfgang Schneider
Mircea Cartarescu: "Der Körper"
Aus dem Rumänischen von Gerhardt Csejka und Ferdinand Leopold
Zsolnay Verlag, München 2011
607 Seiten, 26,00 Euro