Zaudern als demokratische Tugend
Nachdenken über Iphigenie, Goethe als Diskurstheater – selten gelingt dies so offen, impulsiv und dem Publikum zugewandt wie bei diesem Theaterabend mit Franziska Walser und Edgar Selge. Auf einen Regisseur haben die beiden verzichtet und entwerfen mit einem Team aus jungen Leuten ein ungewöhnliches Projekt, das vom Publikum große Wachheit und die Bereitschaft zum Mitdenken verlangt.
Goethes "Iphigenie auf Tauris" wurde lange als Inbegriff eines humanistischen Idealwesens gesehen. Ein Stück mit hohem Sittlichkeitsgehalt und wenig Bühnenspannung. Nun zeigt Franziska Walser eine Suchende, die sich das Recht zu zaudern nimmt. Die Männer um sie herum drängeln, wollen handeln, auch wenn es Opfer kosten könnte. Iphigenie verweigert sich, leistet Widerstand, denkt erst einmal nach.
Eine revolutionäre Neudeutung des Stückes ist das nicht. Schon Claus Peymann hat bereits vor über 30 Jahren in Stuttgart und Bochum eine damals von Kirsten Dene verkörperte Frau gezeigt, die sich den Fragen ihrer Zeit mit schmerzhafter Genauigkeit stellt und bereit ist, Konsequenzen in Kauf zu nehmen. Nicht der Inhalt, aber die Form, in der Walser und Selge nun Goethes Klassiker präsentieren, ist außergewöhnlich.
Die seit über 25 Jahre verheirateten Schauspieler haben auf einen Regisseur verzichtet und ein Trio aus jungen Leuten um sich geschart (Peter Baur, Sibylle Dudek und Falko Herold), das für Ausstattung, Video und Dramaturgie verantwortlich ist. Walser spielt Iphigenie in schlichtem schwarzem Kleid und reflektiert die Rolle zugleich, steigt immer wieder aus, sagt "Och Gott, das haben wir doch alles gestrichen." Selge verkörpert alle anderen Rollen, den von Rachegöttinnen gehetzten Orest, seinen Freund Pylades, den um Iphigenie werbenden König Thoas und seinen um Deeskalation bemühten Diplomaten.
Selge braucht keine Kostümteile und Requisiten, um sich zu verwandeln. Seine gewaltige Spielenergie reicht völlig. Immer wieder entstehen zarte, berührende Momente. Das Wiedertreffen der Geschwister zum Beispiel, Orest erkennt Iphigenie zuerst nicht, will sie nicht erkennen, sondern in seiner Todessehnsucht verharren. Selge starrt, verkrampft sich, setzt sich an den Bühnenrand, ein Verlorener. Diese Verdichtungen wirken auch deshalb überwältigend, weil es viele lockere Passagen gibt.
Die Erlösung Orests von den Erinnyen spielt Edgar Selge im Publikum. Die Zuschauer sind die Geister aus dem Totenreich, er klettert durchs Parkett, rennt nach draußen, taucht im Rang wieder auf. Das ist mehr als ein Inszenierungsgag. Den ganzen Abend über wird das Publikum direkt angesprochen, zum Mitdenken aufgefordert.
Im Theater Marl, wo die Aufführung im Rahmen der Ruhrfestspiele ihre Premiere hatte, muss eine Guckkastenbühne bespielt werden. Das könnte, wenn das Stück im September ans Gorki-Theater nach Berlin wandert, anders sein. Selge und Walser schaffen eine offene, sympathische, zugewandte Atmosphäre. Das Publikum liebt sie dafür, folgt den knapp zwei pausenlosen Stunden mit großer Aufmerksamkeit, reagiert auf Pointen ebenso hörbar wie auf die emotionalen Szenen.
Ein Projektortisch steht auf der Bühne und strahlt an die Decke. Franziska Walser und Edgar Selge schreiben darauf, welche Szene sie gerade zeigen, ironisieren aber schnell mit Witz und Spielfreude die Anmutung der Erwachsenenfortbildung. Ein Wandgemälde zieht sich rund ums Parkett, in dem die Stationen des Tantalidenmythos comicartig dargestellt werden. Das alles hilft bei der Orientierung, ohne pädagogisch zu werden. Bei dieser "Iphigenie" braucht niemand Schwellenangst zu haben, der das Stück nicht kennt. Die diskursive Form verlangt nur Wachheit, Bereitschaft zum Mitdenken und Mitfühlen.
Franziska Walser muss sich in diese Form des Spiels noch einfühlen. Sobald sie ihre Rolle verlässt, wirkt sie etwas unsicher. Aber Edgar Selge wirkt im ständigen Rollenwechsel ganz bei sich. Neugierig, fragend, ungeduldig treibt er den Abend voran, stets auf der Suche nach Impulsen und Gedanken.
Früher entstanden solche persönlichen, eigenwilligen Abende ausschließlich in der freien Szene. Heute haben sich die Stadttheater so weit geöffnet, dass sie auch unter ihren Dächern möglich sind. Und ein bürgerliches Publikum, das viele Sätze aus der "Iphigenie" auswendig mitsprechen kann, macht diesen Weg mit. Was Walser, Selge und ihre Mitstreiter hier entwickelt haben, hat Zukunft. Theater, das den Laborgedanken ernst nimmt und dennoch Zauber entfacht, mit einer überzeugenden Dramaturgie aus Verdichtung und Improvisation. Und wenn Franziska Walser als Iphigenie das Zaudern als demokratische Tugend formuliert, braucht man keine Beispiele aus der Tagespolitik, um die Relevanz dieses Gedankens zu erkennen.
1., 2., 3. Juni Theater Marl, Ruhrfestspiele; ab Dezember im Gorki-Theater Berlin, Maxim Gorki Theater
Eine revolutionäre Neudeutung des Stückes ist das nicht. Schon Claus Peymann hat bereits vor über 30 Jahren in Stuttgart und Bochum eine damals von Kirsten Dene verkörperte Frau gezeigt, die sich den Fragen ihrer Zeit mit schmerzhafter Genauigkeit stellt und bereit ist, Konsequenzen in Kauf zu nehmen. Nicht der Inhalt, aber die Form, in der Walser und Selge nun Goethes Klassiker präsentieren, ist außergewöhnlich.
Die seit über 25 Jahre verheirateten Schauspieler haben auf einen Regisseur verzichtet und ein Trio aus jungen Leuten um sich geschart (Peter Baur, Sibylle Dudek und Falko Herold), das für Ausstattung, Video und Dramaturgie verantwortlich ist. Walser spielt Iphigenie in schlichtem schwarzem Kleid und reflektiert die Rolle zugleich, steigt immer wieder aus, sagt "Och Gott, das haben wir doch alles gestrichen." Selge verkörpert alle anderen Rollen, den von Rachegöttinnen gehetzten Orest, seinen Freund Pylades, den um Iphigenie werbenden König Thoas und seinen um Deeskalation bemühten Diplomaten.
Selge braucht keine Kostümteile und Requisiten, um sich zu verwandeln. Seine gewaltige Spielenergie reicht völlig. Immer wieder entstehen zarte, berührende Momente. Das Wiedertreffen der Geschwister zum Beispiel, Orest erkennt Iphigenie zuerst nicht, will sie nicht erkennen, sondern in seiner Todessehnsucht verharren. Selge starrt, verkrampft sich, setzt sich an den Bühnenrand, ein Verlorener. Diese Verdichtungen wirken auch deshalb überwältigend, weil es viele lockere Passagen gibt.
Die Erlösung Orests von den Erinnyen spielt Edgar Selge im Publikum. Die Zuschauer sind die Geister aus dem Totenreich, er klettert durchs Parkett, rennt nach draußen, taucht im Rang wieder auf. Das ist mehr als ein Inszenierungsgag. Den ganzen Abend über wird das Publikum direkt angesprochen, zum Mitdenken aufgefordert.
Im Theater Marl, wo die Aufführung im Rahmen der Ruhrfestspiele ihre Premiere hatte, muss eine Guckkastenbühne bespielt werden. Das könnte, wenn das Stück im September ans Gorki-Theater nach Berlin wandert, anders sein. Selge und Walser schaffen eine offene, sympathische, zugewandte Atmosphäre. Das Publikum liebt sie dafür, folgt den knapp zwei pausenlosen Stunden mit großer Aufmerksamkeit, reagiert auf Pointen ebenso hörbar wie auf die emotionalen Szenen.
Ein Projektortisch steht auf der Bühne und strahlt an die Decke. Franziska Walser und Edgar Selge schreiben darauf, welche Szene sie gerade zeigen, ironisieren aber schnell mit Witz und Spielfreude die Anmutung der Erwachsenenfortbildung. Ein Wandgemälde zieht sich rund ums Parkett, in dem die Stationen des Tantalidenmythos comicartig dargestellt werden. Das alles hilft bei der Orientierung, ohne pädagogisch zu werden. Bei dieser "Iphigenie" braucht niemand Schwellenangst zu haben, der das Stück nicht kennt. Die diskursive Form verlangt nur Wachheit, Bereitschaft zum Mitdenken und Mitfühlen.
Franziska Walser muss sich in diese Form des Spiels noch einfühlen. Sobald sie ihre Rolle verlässt, wirkt sie etwas unsicher. Aber Edgar Selge wirkt im ständigen Rollenwechsel ganz bei sich. Neugierig, fragend, ungeduldig treibt er den Abend voran, stets auf der Suche nach Impulsen und Gedanken.
Früher entstanden solche persönlichen, eigenwilligen Abende ausschließlich in der freien Szene. Heute haben sich die Stadttheater so weit geöffnet, dass sie auch unter ihren Dächern möglich sind. Und ein bürgerliches Publikum, das viele Sätze aus der "Iphigenie" auswendig mitsprechen kann, macht diesen Weg mit. Was Walser, Selge und ihre Mitstreiter hier entwickelt haben, hat Zukunft. Theater, das den Laborgedanken ernst nimmt und dennoch Zauber entfacht, mit einer überzeugenden Dramaturgie aus Verdichtung und Improvisation. Und wenn Franziska Walser als Iphigenie das Zaudern als demokratische Tugend formuliert, braucht man keine Beispiele aus der Tagespolitik, um die Relevanz dieses Gedankens zu erkennen.
1., 2., 3. Juni Theater Marl, Ruhrfestspiele; ab Dezember im Gorki-Theater Berlin, Maxim Gorki Theater