Einmal weg, immer weg?
29:52 Minuten
In einer Art Husarenstreich wurde die Wehrpflicht 2011 durch den damaligen Verteidigungsminister zu Guttenberg ausgesetzt. Ein Fehler, sagten viele, zuletzt die Wehrbeauftragte Eva Högl (SPD). Doch gäbe es überhaupt einen Weg zurück zur Rekrutenarmee?
Besonders beliebt war die Wehrpflicht nie – zumindest nicht bei den jungen Männern, die eingezogen wurden. Schon 1956 nicht, als das westdeutsche Wehrpflichtgesetz in Kraft trat:
"Also, ich würde zunächst einmal mit jemandem reden, der gern Soldat wird. Wer von Ihnen geht gern zum Dienstbeginn in die Kaserne?", fragt ein Reporter des Hessischen Rundfunks junge Männer, die in Feinripp-Unterhemden in einem Umkleideraum auf ihre Musterung warten. "Niemand?", stellt der Reporter lachend fest. Doch es half nichts. 1957 wurden in Westdeutschland die ersten Wehrpflichtigen einberufen.
Heute ist der Wehrdienst freiwillig. Das ist das Ergebnis einer Streitkräftereform aus dem Jahr 2011, vor allem, um die Zahl der Soldatinnen und Soldaten zu verkleinern. Seitdem ist die Wehrpflicht "ausgesetzt". Doch trotz der Freiwilligkeit ist das Interesse nicht größer geworden. Nach der Schule ein paar Monate zum Bund, darauf haben die wenigsten Lust. Von 15.000 vorgesehenen Stellen sind gerade mal 8000 besetzt.
Also zurück zur Wehrpflicht, wie manche fordern? Zum Beispiel Eva Högl. Die Wehrbeauftragte des Bundestages von der SPD hatte zuletzt – auch vor dem Hintergrund rechtsextremistischer Vorfälle in der Bundeswehr – erklärt, sie halte die Aussetzung für einen Riesenfehler. Eine Rückkehr zur Wehrpflicht wäre auch möglich, denn sie ist ja nicht abgeschafft. Nach wie vor heißt es in Artikel 12a des Grundgesetzes:
"Männer können vom vollendeten achtzehnten Lebensjahr an zum Dienst in den Streitkräften, im Bundesgrenzschutz oder in einem Zivilschutzverband verpflichtet werden."
Die Wehrpflicht könnte also wiederkommen. Doch wie wahrscheinlich ist das? Und brauchen wir sie überhaupt? Ein Blick auf die wichtigsten Argumente dafür und dagegen.
Argument 1: die Landesverteidigung
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hat Westdeutschland einen neuen Feind, und der steht im Osten. Die Bundesrepublik ist wieder in Gefahr – diese angespannte Stimmung wird auch bei einem Besuch des damaligen Bundeskanzlers Konrad Adenauer bei der Truppe offenbar. Im Januar 1956 ruft er den ersten Freiwilligen der neu gegründeten Bundeswehr im rheinland-pfälzischen Andernach zu:
"Soldaten, das deutsche Volk erwartet von Ihnen, dass Sie in treuer Pflichterfüllung Ihre ganze Kraft einsetzen für das über allem stehende Ziel, in Gemeinschaft mit unseren Verbündeten den Frieden zu sichern."
Es ist die Zeit des Kalten Krieges: Die Bundesregierung befürchtet einen Angriff Russlands. Die Sorge ist sogar so groß, dass die Regierung die Bundeswehr mit Atomwaffen ausrüsten will. Dazu argumentiert der damalige Verteidigungsminister Franz Josef Strauß 1957 in einer Bundestagsdebatte:
"Nach wie vor ist die Bundesrepublik durch das militärische Potenzial und die unverändert gebliebene politische und ideologische Zielsetzung der Sowjetunion einer ernsten Bedrohung ausgesetzt. Entspannung, Abrüstung, Sicherheit und Wiedervereinigung gehen Hand in Hand. Alle Bemühungen in dieser Hinsicht sind bis jetzt ausschließlich am Widerstand der Sowjetunion gescheitert."
Wegen der empfundenen russischen Bedrohung soll die Bundeswehr wachsen, und zwar schnell. Die regierende CDU/CSU-Fraktion will eine 500.000 Mann starke Armee aufbauen und führt dazu die Wehrpflicht ein, gegen den Willen der oppositionellen SPD. 1957 ziehen dann die ersten Wehrpflichtigen in die Kasernen ein. 20 Jahre später erreicht die Zahl der Wehrdienstleistenden mit fast 250.000 Mann ihren Höchststand. Die Begründung lautete stets: Landesverteidigung. Mit dem Mauerfall fiel dieses Argument weg. Darauf wies 1995 auch der damalige Bundespräsident Roman Herzog hin. Auf der Kommandeurtagung der Bundeswehr in München sagte er:
"Die Wehrpflicht ist ein so tiefer Eingriff in die individuelle Freiheit des jungen Bürgers, dass ihn der demokratische Rechtsstaat nur fordern darf, wenn es die äußere Sicherheit des Staates wirklich gebietet. Sie ist also kein allgemeingültiges ewiges Prinzip, sondern sie ist auch abhängig von der konkreten Sicherheitslage. Ihre Beibehaltung, Aussetzung oder Abschaffung und ebenso die Dauer des Grundwehrdienstes müssen sicherheitspolitisch begründet werden können."
Von Freunden statt von Feinden "umzingelt"
Doch diese sicherheitspolitische Begründung gab es nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes nicht mehr. Der Warschauer-Pakt hatte sich aufgelöst, die NATO hatte ihren jahrzehntelangen Feind verloren und war "von Freunden umzingelt", wie es der frühere Verteidigungsminister Volker Rühe mal ironisch formulierte. Doch anstatt die Wehrpflicht mit dem Mauerfall auszusetzen oder ganz abzuschaffen, entschieden die jeweiligen Bundesregierungen, zunächst die Dienstzeit immer weiter zu reduzieren. Eine jahrzehntelange Entwicklung, die schon vor der Wiedervereinigung begann. Von 18 Monaten in den 60ern und Anfang der 70er-Jahre sank die Dienstzeit zuerst auf 15 Monate, dann auf zwölf, zehn, neun und am Ende sechs Monate. Der Grund: Es kamen so viele Kinder zur Welt, dass gar nicht alle eingezogenen werden und über längere Zeit ausgebildet werden konnten.
Dazu kam der Zwei-plus-Vier-Vertrag, die Vereinbarung zwischen der Bundesrepublik, der DDR und den vier Siegermächten des Zweiten Weltkrieges. Demnach musste Deutschland die Bundeswehr von damals 510.000 auf maximal 370.000 Soldaten reduzieren. Damit sank der Bedarf an Wehrpflichtigen noch weiter. Und schließlich gab es eine weitere Veränderung: der Wandel der Bundeswehr zur Einsatzarmee. Henning Otte, verteidigungspolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, erinnert sich:
"Wir brauchen nicht mehr die schnelle Präsenzarmee wie noch zu Zeiten des Kalten Krieges an den Grenzen, sondern wir sind heute Teil eines Bündnisses mit Einsatzgebieten außerhalb unserer Landesgrenzen. Und dies war weiterhin ein Indiz dafür, dass es auch eines Tages vom Bundesverfassungsgericht gekippt werden könnte. Und da war es politischer Gestaltungsanspruch, hier die Fäden in der Hand zu behalten."
Gerade die Union treibt am Ende die Aussetzung der Wehrpflicht voran – also ausgerechnet die Fraktion, die sich jahrzehntelang für die Beibehaltung eingesetzt hatte. Zuletzt 2009 in den Koalitionsverhandlungen mit der FDP, die die Wehrpflicht eigentlich abschaffen wollte. Doch damit konnte sich der kleine Koalitionspartner nicht durchsetzen. Dabei war die Bundeswehr schon lange ein Exot in der Nato: Fast alle anderen Mitglieder im Bündnis hatten die Wehrpflicht abgeschafft, die USA bereits nach dem Vietnamkrieg. In weltweite Einsätze wollten Politik und Militärführung offensichtlich lieber gut ausgebildete, erfahrene Männer und Frauen schicken.
"Sicherheitspolitisch nicht mehr begründbar"
In Deutschland gab es außer veränderten sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen und dem Wandel zur Einsatzarmee einen weiteren Aspekt: die zunehmenden Geldprobleme. Die Bundeswehr musste damals jährlich eine Milliarde Euro sparen. Karl-Theodor zu Guttenberg, in jener Zeit Verteidigungsminister, setzte dazu 2010 eine Bundeswehr-Strukturkommission ein. Die empfahl zum einen, die Truppe von 240.000 auf 185.000 Soldatinnen und Soldaten zu verkleinern. Und zum anderen, die Wehrpflicht auszusetzen. Henning Otte hat die Debatte in schmerzhafter Erinnerung:
"Ich selbst war auch ein Anhänger der Wehrpflicht, weil es für die Persönlichkeit auch eines jeden Einzelnen von Vorteil war und eine Bedeutung hatte. Außerdem hatten wir dadurch natürlich eine gute Durchmischung. Aber nochmals: Der Auftrag der Bundeswehr ist nicht, die Schule der Nation zu sein oder Defizite aufzufangen nach dem Motto ‚dieser Dienst hat noch keinem geschadet‘, sondern es ging darum, einen sicherheitspolitischen Auftrag zu erfüllen."
Das unterstreicht auch Verteidigungsminister zu Guttenberg in einer Bundestagsrede Anfang 2011: "Die Verpflichtung zum Grundwehrdienst ist heute sicherheitspolitisch nicht mehr begründbar. Auch für mich hat das ein Umdenken bedeutet – aber ein Umdenken, aus dem auch eine Perspektive erwachsen sollte. Der letztlich entscheidende Maßstab für die Bundeswehr muss die Fähigkeit zum Einsatz im Rahmen des gegebenen Auftragsspektrums sein, und in diesem Gesamtkontext steht auch der heute vorliegende Gesetzentwurf. Die Pflicht zum Grundwehrdienst soll zum 1. Juli 2011 ausgesetzt werden. Die letzten verpflichtend Grundwehrdienst Leistenden wurden am 3. Januar dieses Jahres eingezogen."
Zu Guttenberg betont damals aber auch, dass mit der geplanten Änderung des Wehrpflichtgesetzes die Wehrpflicht nicht abgeschafft sei, sondern lediglich ausgesetzt.
"Ich halte das weiterhin auch für geboten und richtig, dass wir uns die verfassungsrechtliche Grundlage zur Wehrpflicht erhalten. Das ist eine wichtige und kluge Entscheidung mit Blick auf Szenarien, die wir heute sicher nicht ganz absehen können."
Mit der Krim-Annexion kam die Angst zurück
Was er und andere zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen konnten, war die Annexion der Krim durch Russland 2014. Plötzlich ist sie wieder da, die Angst vor einem Angriff. Vor allem NATO- und EU-Mitgliedsstaaten in Osteuropa fühlen sich massiv bedroht, das Militärbündnis fühlt sich herausgefordert und regiert mit der Aufstellung schneller Eingreiftruppen sowie mehr Präsenz im Osten. Es tritt das ein, was Jahre zuvor kaum noch vorstellbar war: Landes- und vor allem Bündnisverteidigung spielen plötzlich wieder eine Rolle. Denn die geschrumpfte Truppe sieht sich immer weniger in der Lage, alle Aufträge zu erfüllen, die die Politik ihr stellt. In der Folge flammt auch die Debatte über eine Reaktivierung der Wehrpflicht immer wieder auf, vor allem, um die Bundeswehr personell schnell wieder aufzustocken.
Doch der CDU-Politiker Henning Otte bleibt bei seiner Position:
"Die Wiedereinführung des verpflichtenden Wehrdienstes muss sicherheitspolitisch begründet werden. Hier ist die sicherheitspolitische Lage Gott sei Dank nicht so, dass dies notwendig erscheint. Wir setzen klar weiterhin auf einen freiwilligen Ansatz."
Und richtig: Auch wenn die sicherheitspolitische Lage in Europa inzwischen deutlich angespannter ist als zur Zeit der Aussetzung der Wehrpflicht – der Spannungs- und Verteidigungsfall ist bislang nicht eingetreten. Aus Gründen der Landesverteidigung kann die Wehrpflicht also nicht wieder eingeführt werden. Das enttäuscht manche. Andere wiederum sind erleichtert, gibt es doch auch Argumente gegen eine Wiedereinführung.
Argument 2: Gerechtigkeit
Die "Schule der Nation", wie Befürworter die Wehrpflicht nannten, wollten zunehmend weniger junge Männer besuchen. Seit 1973 war die Zahl der Einberufenen rückläufig, während die Zahl der Zivildienstleistenden stetig anstieg. Und das, obwohl der Zivildienst meistens länger dauerte – in den letzten Jahren vor Ende des Kalten Kriegs sogar fünf Monate länger. Die Begründung dafür war, dass Wehrdienstleistende ja später noch Reserveübungen machen, also insgesamt mehr als die reine Wehrdienstzeit bei der Truppe sein würden. Das haben aber längst nicht alle getan. Kritiker beklagten deshalb, die längere Zivildienstzeit sei de facto eine Abschreckung durch den Staat, der die jungen Männer von einer Verweigerung abhalten solle. Kritiker, zu denen auch Peter Tobiassen gehört. Er engagierte sich 30 Jahre lang in der bis 2014 bestehenden Zentralstelle für Recht und Schutz der Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen. Ein Verbund aus zuletzt 26 Mitgliedsorganisationen, darunter Gewerkschaften, Kirchen, SPD und Grüne.
Tobiassen erinnert sich an die harten Kämpfe und die Verzweiflung vieler Verweigerer, denn bis in die 1980er war es in Westdeutschland schwer, zu verweigern. Es gab eine sogenannte mündliche Gewissensprüfung vor einem Ausschuss, bei der viele junge Männer eine Absage kassierten. Auch Peter Tobiassen. Er verweigerte in den 1970ern den Kriegsdienst und musste sich während seiner Gewissensprüfung vor einem Ausschuss Uniformierter erklären:
"Die hatten alle Kriegserfahrungen, die waren alle in der Nazi-Wehrmacht, die hatten alle den Zweiten Weltkrieg miterlebt und mussten verarbeiteten, dass das, was sie da gemacht hatten, wirklich falsch war. Und dann kamen da diese 18-jährigen Schnösel, die sagen: Das kann man aber mit seinem Gewissen überhaupt nicht vereinbaren. Das war die größtmögliche Hürde, die da aufgebaut wurde: Man stellt deren Lebensleistung in Frage und sollte sie dann noch überzeugen gegen den Mainstream der Politik."
Damit meint er den Kalten Krieg und die Angst Westdeutschlands davor, von russischen Panzerverbänden überrollt zu werden. Ob jemand diese Gewissensprüfung bestand oder nicht, sei reine Willkür gewesen, kritisiert Peter Tobiassen. Das habe er selbst erlebt. Bei der ersten Anhörung wurde sein Antrag nicht zugelassen, in der Berufungsverhandlung hingegen schon, ohne dass sich seine Begründung geändert habe. Tobiassen ist überzeugt: Gewissen ist nicht prüfbar.
"Und wenn jemand sagt, mein Gewissen verbietet mir, das zu tun, dann dürfen sich nicht andere dazu aufschwingen, darüber zu urteilen. Wenn Sie sagen: Ich will meine Meinung frei äußern, kann auch keiner prüfen, ob Sie die richtige Person sind, die ihre Meinung frei äußern darf oder nicht."
Verweigerer beriefen sich aufs Grundgesetz
Berufen konnten sich Peter Tobiassen und andere dabei auch auf das Grundgesetz, das – nicht zuletzt durch die Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg – eine Verweigerung aus Gewissensgründen erlaubt. Dennoch wurden die Anträge vieler Verweigerer nicht anerkannt. Gesellschaftlich waren Kriegsdienstverweigerer lange stigmatisiert. Sie galten als Drückeberger, die lieber lange schlafen wollten, als ihr Land zu verteidigen.
Ein kurzer Exkurs: In der DDR galt seit 1962 die Wehrpflicht, die 18 Monate dauerte. Zivildienst gab es nicht. Allerdings konnten junge Männer – was einmalig im Ostblock war – so genannte "Bausoldaten" werden, die vor allem im Straßenbau, als Gärtner, Küchenhelfer oder auch in Betrieben eingesetzt wurden. Wer sich dafür entschied, beeinträchtigte damit jedoch erheblich seine Studien-, Ausbildungs- und Berufschancen. Bis 1989 gab es zudem 6000 so genannte Totalverweigerer, die auch den Dienst als Bausoldat ablehnten. Mehr als die Hälfte von ihnen wurde dafür bestraft und musste meist 18 Monate ins Gefängnis.
Im Laufe der Zeit machte es der westdeutsche Staat jungen Männern leichter, den Wehrdienst zu verweigern. 1984 wurde die mündliche Gewissensprüfung abgeschafft und durch eine schriftliche Begründung ersetzt. Diese ging an das Bundesamt für den Zivildienst und wurde dort lediglich auf Vollständigkeit und Schlüssigkeit geprüft. Schweißtreibende Auftritte vor skeptischen alten Männern waren damit passé.
Infolgedessen nahm die Zahl der Zivildienstleistenden kontinuierlich zu. Kurz vor der Aussetzung der Wehrpflicht gab es sogar mehr Zivis als Wehrdienstleistende. So standen 2009 90.000 Zivis 68.000 Wehrdienstleistenden gegenüber. Parallel dazu nahm auch die Wehrgerechtigkeit immer mehr ab. Wegen der vielen geburtenstarken Jahrgänge wurden immer weniger junge Männer in die Bundeswehr einberufen: In den Jahren vor der Aussetzung waren es nur noch 13 Prozent eines Gesamtjahrgangs. Die Hälfte von 420.000 jungen Männern wurde sogar ganz ausgemustert, musste also noch nicht mal einen zivilen Ersatzdienst machen.
Auch unter dem Gesichtspunkt Gerechtigkeit spricht daher einiges gegen eine Wiedereinführung der Wehrpflicht. Zumal sich dann die Frage stellt, ob eine Wehrpflicht nicht auch für Frauen gelten müsse – was zum Beispiel die Wehrbeauftragte Eva Högl in die Diskussion gebracht hatte.
Argument 3: Gesellschaftliches Engagement
Die Aussetzung der Wehrpflicht 2011 hatte nicht nur zur Folge, dass die Bundeswehr zur Freiwilligenarmee wurde. Der damalige Beschluss bedeutete auch das Ende des Zivildienstes. Für viele Wohlfahrtsverbände war das eine echte Herausforderung, erinnert sich Rainer Hub, der beim Bundesverband der Diakonie für Freiwilligendienste zuständig ist. Die Sorge vieler war damals, dass ohne Zivis alles zusammenbricht. Das war nicht der Fall, erzählt Hub:
"Es ist erst einmal gar nichts zusammengebrochen. Und kritisch war es nur in zwei Bereichen. Das eine war bei uns in der Diakonie in den Werkstätten für Behinderte. Dass da plötzlich junge Männer mit guten handwerklichen Kenntnissen oder sogar Ausbildungen über Nacht nicht mehr gekommen sind, hat erstmal zu einer gewaltigen Lücke geführt. Und das andere waren die Fahrdienste: dass plötzlich die Beifahrer für diese ganze Fahrzeugkolonne, die morgens auf dem Hof stand, nicht mehr gekommen sind. Alles andere haben wir relativ gut kompensieren können. Und das Thema mit der Altenhilfe, das war schon immer nur ein Gerücht – 'Da bricht irgendwas zusammen' –, weil die Altenhilfe für die jungen Männer traditionell das unattraktivste Einsatzgebiet von allen war. Ergo waren da die wenigsten, und ganz viele Stellen waren auch schon vor der Aussetzung nicht besetzt."
Die Wohlfahrtsverbände konnten ihre Arbeit also auch ohne Zivis weiterführen – nicht zuletzt, weil die Bundesregierung stattdessen den Bundesfreiwilligendienst einführte. Bestehen blieb zudem auch das Freiwillige Soziale Jahr, kurz FSJ. Heute gibt es knapp 40.000 Frauen und Männer, die den Freiwilligendienst leisten und rund 52.000 FSJler. Zum Vergleich: Demgegenüber stehen rund 8.000 freiwillig Wehrdienstleistende. Damit ist nur etwa die Hälfte der eingeplanten Stellen besetzt. Und die Bewerberzahlen sinken stetig, wie aus einer Aufstellung des Verteidigungsministeriums hervorgeht, die der Deutschen Presse-Agentur vorliegt. 2012 bewarben sich 19.300 Männer und Frauen für den freiwilligen Wehrdienst, 2019 waren es nur noch 11.200. Und: Fast jeder Vierte hat seinen Dienst demnach bereits in der Probezeit abgebrochen.
Eine Wiedereinführung der Wehrpflicht, das haben die bisherigen Beispiele gezeigt, ist offenbar schwierig und nur von wenigen gewollt. Was wäre die Alternative? Eine Dienstpflicht für alle, Männer und Frauen, egal, ob beim Bund oder im Altenheim? Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer setzt sich dafür zumindest immer wieder ein: Damit könnten junge Menschen ihrem Land und der Gesellschaft etwas zurückgeben, sagte die CDU-Politikerin. Sie könnten die Sicherheit des Landes gewährleisten oder die Gesellschaft in anderen Bereichen unterstützen: in der Altenpflege, der Behindertenhilfe oder in Krankenhäusern.
Allgemeine Dienstpflicht in der Debatte
Rainer Hub von der Diakonie ist gegen eine solche allgemeine Dienstpflicht ab. Man benötige gar nicht mehr Stellen bei den Wohlfahrtsverbänden:
"Wir haben genug Stellen. Wenn wir etwas mehr brauchen, brauchen wir mehr Mittel im Bundeshaushalt, um alle Stellen zu besetzen."
Und das vor allem für die aufwendige Ausbildung der Interessenten, sagt Hub. Denn die Menschen, die einen Freiwilligendienst leisten wollten, seien immer diverser: beim Alter, bei der Bildung, bei den Sprachkenntnissen.
Widerspruch kommt auch aus der Politik – zum Beispiel von Henning Otte, verteidigungspolitischer Sprecher der CDU und damit Parteifreund von Kramp-Karrenbauer:
"Erstens es gibt eine breite Resonanz für einen Dienst für unser Land nach dem Motto: Frag nicht, was das Land für dich, sondern was du für dein Land tun kannst – und eine große Bereitschaft. Allerdings können wir die nicht verpflichtend durchführen. Das würde europarechtlich nicht vereinbar sein. Und zweitens müssten wir praktisch 800.000 junge Frauen und Männer in den Dienst bringen. Das würde die Kapazitäten übersteigen."
Kapazitäten bei der Ausbildung und Unterbringung, aber auch bei der Finanzierung: Die FDP geht von 13,1 Milliarden Euro aus, die es jährlich kosten würde, einem ganzen Jahrgang dienstpflichtiger junger Menschen den gesetzlichen Mindestlohn zu zahlen. Geld, das nach Ansicht der Liberalen sinnvoller ausgegeben werden könnte.
Dagegen ist auch die SPD, wie deren Verteidigungspolitikerin Siemtje Möller erklärt:
"Ich weiß, dass es gerade viele aus der älteren Generation gibt, die sagen: ‚Ja, die jungen Leute müssen doch mal wieder richtig lernen, wie Gesellschaft funktioniert. Und sie sollen denen was zurückgeben, die ihnen alles das aufgebaut haben.‘ Ich halte von solcher Argumentation nicht viel, denn ich sehe, dass viele junge Menschen wirklich in Ehrenämtern unterwegs sind oder eben diesen Bundesfreiwilligendienst ableisten. Da haben wir steigende Zahlen."
Argument 4: Einsatzbereitschaft der Bundeswehr
Es bleibt ein letztes Argument für eine Reaktivierung der Wehrpflicht: die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr. Wer sich mit Soldatinnen und Soldaten unterhält, hört bei vielen immer wieder ein großes Bedauern darüber, dass die Wehrpflicht ausgesetzt wurde. Denn die Truppe soll nach Jahren der Schrumpfkur wieder wachsen. Nicht nur, um wieder mehr Kapazitäten für Landes- und Bündnisverteidigung zu haben. Deutschland und die EU wollen außerdem unabhängiger von den USA werden. Nachdem der damalige Präsident Trump die NATO zwischenzeitlich für obsolet erklärt hatte, stellte selbst Kanzlerin Angela Merkel fest, die USA seien kein verlässlicher Partner mehr. Und auch, wenn sich die USA unter Joe Biden internationaler Zusammenarbeit gegenüber wieder deutlich offener zeigen: der Schock sitzt tief.
Doch um die von der Politik vorgegeben Personalzahlen erreichen zu können, müssen sich die Personalverantwortlichen der Streitkräfte mächtig anstrengen. Schon 2012 hieß es aus dem Verteidigungsministerium: Um geeignete Kandidaten auswählen zu können, müssten sich zehn Prozent eines Jahrgangs bei der Bundeswehr bewerben. Ein wahrscheinlich unerreichbares Ziel. Ex-NATO-Oberbefehlshaber General a.D. Egon Ramms schätzte, rund 40 Prozent der Zeit- und Berufssoldaten hätten sich damals aus den Reihen der Wehrpflichtigen rekrutiert. Vor allem Militärs versprechen sich deswegen viel von einer Wiedereinführung der Wehrpflicht.
Doch es gibt auch innerhalb der Bundeswehr gegenteilige Stimmen – wie die von Hauptmann Alexander Rist, Ausbilder in der Grundausbildung im Sanitätsregiment 2 im rheinland-pfälzischen Rennerod:
"Ich glaube nicht, dass wir in der Bundeswehr Personal brauchen, was nicht zur Bundeswehr will. Und wir versuchen dann, mit denen, ich sage jetzt mal, in den Krieg zu ziehen oder irgendwelche Vorbereitungen zu treffen. Da fühle ich mich dann auch nicht sicher, wenn ich weiß: Der hier will eigentlich gar nicht dabei sein, aber mit dem muss ich jetzt irgendetwas machen. Da bin ich eindeutig dagegen."
Probleme, die es mit Freiwilligen natürlich nicht gibt.
Auf Freiwilligkeit setzt das Verteidigungsministerium übrigens auch bei einer weiteren Herausforderung, die die Aussetzung der Wehrpflicht mit sich gebracht hat: Mit verkleinerten Streitkräften gibt es auch immer weniger Reservistinnen und Reservisten, also ehemalige Soldatinnen und Soldaten, die sich mit regelmäßigen Reserveübungen fit halten und im Krisenfall schnell reaktiviert werden können. Um wieder mehr Reservekräfte zu bekommen, hat die Verteidigungsministerin inzwischen eine neue Variante des freiwilligen Wehrdienstes konzipieren lassen – das sogenannte "Deutschland-Jahr". Das beinhaltet außer sieben Monaten aktiver Dienstzeit weitere insgesamt fünf Monate Reserveübungen in der Nähe des Wohnortes, verteilt über sechs Jahre. Die Hoffnung ist, dass Interessierte den Dienst so besser in ihre "individuelle Lebensplanung" integrieren können, wie das Verteidigungsministerium es ausdrückt. Die ersten dieser Freiwilligen starteten im April.
Verteidigungsministerium setzt weiter auf Freiwilligkeit
Außerdem hat das Ministerium ein neues Reservistenkonzept erstellt. Ab Oktober werden dabei ausscheidende Soldaten und Soldatinnen automatisch für sechs Jahre für passende Reserve-Dienstposten eingeplant und zu Übungen eingeladen. Auch das ist freiwillig.
Wenn also auch der große Personalmangel in der Bundeswehr kein ausreichender Grund ist, die Wehrpflicht wieder einzuführen, was bleibt dann noch? Immer wieder ist zu hören: Die Truppe muss deutlich attraktiver werden, damit sich junge Leute freiwillig bewerben. Dafür müsse vor allem in die Ausrüstung investiert werden, denn wer zum Bund komme, wolle Panzer fahren und Jets fliegen. In der Diskussion sind auch flexiblere Arbeitszeit, mehr Geld und eine bessere Absicherung im Alter. Und nicht zuletzt geht es auch um einen besseren Umgang miteinander - im Zivilen würde man von der "Unternehmenskultur" sprechen.
Die fordert auch Carola Handtke. Die langjährige Bundeswehrangehörige heißt eigentlich anders, möchte aber unerkannt bleiben, weil sie Ärger von ihrem Dienstherrn befürchtet.
"Der Organisation muss es gelingen, Menschen mit ihren individuellen Fähigkeiten und Wünschen anzuerkennen. Und zwar, indem sie auf Dienstposten eingesetzt werden, auf denen sie ihre Stärken am besten einbringen können und wollen", sagt Handtke. Klingt wie eine Binsenweisheit: Wer Spaß an der Arbeit hat, arbeitet besser und ist zufriedener. Doch die Bundeswehr funktioniert oft anders: Wenn ein Dienstposten dringend besetzt werden muss, wird, wenn nötig, auch der nächstbeste dazu abkommandiert.
Carola Handtke weist noch auf ein weiteres Problem hin. Es geht um die, wie sie es formuliert, Willkommenskultur für Seiteneinsteiger. Denn manche kommen erst in die Truppe, nachdem sie bereits eine zivile Ausbildung oder ein Studium absolviert haben. Denen weht oft ein eisiger Wind entgegen, berichtet Handtke:
"Bislang habe ich beobachtet, dass es eine Art Akzeptanz-Hierarchie unter Soldatinnen und Soldaten gibt: Nur wer nach der Grundausbildung den vorgegebenen linearen Weg geht, gilt als "echter" Soldat und wird entsprechend ernst genommen. Seiteneinsteigern wird manchmal mit Neid begegnet, und manchmal sogar mit Abfälligkeit oder Arroganz."
Ein möglicher Grund könnte sein, dass Seiteneinsteigerinnen und -einsteiger mit Ausbildung oder Studium mit einem höherem Dienstgrad in die Truppe einsteigen. Das bedeutet mehr Autorität und mehr Gehalt. Darauf sind manche neidisch, die einen jahrelangen Marsch durch die Institution hinter sich haben.
Bundeswehr muss inklusiver werden
Die Soldatinnen und Soldaten müssten darüber hinaus auch ihre Einstellung gegenüber Zivilangestellten und Beamten ändern. Denn in der Bundeswehr gibt es nicht nur die 184.000 Soldatinnen und Soldaten in Uniform, sondern auch 81.000 zivile Mitarbeiter.
"Gegenüber Zivilangestellten besteht meiner Meinung nach eine höfliche Distanz. Soldatinnen und Soldaten brauchen sie, etwa zur Bewilligung von Reiseanträgen, aber ein richtiges Gemeinschaftsgefühl fehlt oftmals. Und dasselbe gilt für die Zusammenarbeit mit Reservistinnen und Reservisten – die werden anfangs eher skeptisch betrachtet", sagt Handtke.
Zehn Jahre nach Aussetzung der Wehrpflicht ist eine Wiedereinführung nicht in Sicht. Denn obwohl die europäische Sicherheitslage heute angespannter ist als 2011, ist Deutschland vom Verteidigungsfall weit entfernt. Heimatverteidigung ist aber laut Grundgesetz der Grund dafür, dass Wehrpflichtige überhaupt gezogen werden dürfen. Für eine Reaktivierung sind also schlicht die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen nicht gegeben. Auch das Personalproblem der Bundeswehr kann einen derart großen Eingriff in die Grundrechte nicht rechtfertigen. Die Bundeswehr muss ihr Personalproblem selbst lösen, indem sie den Dienst deutlich attraktiver gestaltet. Der Jahrestag "Zehn Jahre ohne Wehrpflicht" mag für manche im Verteidigungsministerium nostalgische Gefühle an eine scheinbar "gute alte Zeit" wecken. Doch das hilft der Truppe nicht weiter. Stattdessen sollte der Jahrestag eines sein: eine Motivation, anstehende herausfordernde Veränderungsprozesse mutiger anzugehen.
Mitwirkende
Regie: Frank Merfort
Technik: Jan Fraune
Redaktion: Carsten Burtke
Sprecherin: Julia Weigelt
Regie: Frank Merfort
Technik: Jan Fraune
Redaktion: Carsten Burtke
Sprecherin: Julia Weigelt