Die Politikwissenschaftlerin Hadija Haruna-Oelker lebt und arbeitet als Autorin, Redakteurin und Moderatorin in Frankfurt/Main. Hauptsächlich ist sie für den Hessischen Rundfunk tätig – u.a. für die Sendung "Der Tag". Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Jugend und Soziales, Migration und Rassismusforschung. Haruna-Oelker ist Preisträgerin des ARD-Hörfunkpreises Kurt Magnus 2015.
Wie weit ist die inklusive Gesellschaft?
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Seit zehn Jahren gilt Inklusion als Menschenrecht mit verbindlichen Regeln in Deutschland. Doch bei der Umsetzung sieht es ziemlich düster aus, meint Politikwissenschaftlerin Hadija Haruna-Oelker. Den Umgang mit Verschiedenheit müsse man noch lernen.
Kennen Sie einen Menschen mit Behinderung? Etwa jeder zehnte Deutsche hat eine. Zum Beispiel Lotta - sechs Jahre alt. Sie kann nicht laufen, sehen oder sprechen, aber sie kann hören und verstehen. Was also ist eine gute Schule für sie?
Lottas Kindergarten hat gezeigt, dass Inklusion gut gelingen kann. Bei der Schulsuche aber stößt ihre Mutter Sandra Roth auf Ablehnung. Roth ist Autorin der Bestseller "Lotta Wundertüte" und "Lotta Schultüte". Sie fragt: Wie müsste eine Welt aussehen, die Lotta mehr sein lässt als nur behindert. Wer bestimmt die Normalität?
Einfaches Nebeneinander ist keine Inklusion
Vor zehn Jahren trat die UN-Behindertenrechtskonvention in Kraft. Sie will eine Antwort darauf geben. Gefordert wird darin die volle und gleichberechtigte Teilhabe behinderter Menschen in allen Lebensbereichen. Inklusion gilt seither als Menschenrecht mit verbindlichen Regeln.
Sie soll früh praktiziert werden: an Schulen zum Beispiel. Viele von ihnen machten sich auf den Weg. Bremen wurde zum Vorzeigeland, Bayern zum Schlusslicht. Die Landkarte der Inklusion besteht heute aus einzelnen Leuchttürmen. In der Fläche ist es eher dunkel. So stellt die Statistik dem Projekt ein eher schlechtes Zeugnis aus, unter anderem weil sich die Zahl der behinderten Schüler, die auf Förderschulen kommen praktisch kaum verändert hat.
Am Beispiel Schule zeigt sich exemplarisch: Ein einfaches Nebeneinander von Kindern mit und ohne Behinderung genügt nicht für eine gute Inklusion. Es hakt bei der Schulentwicklung, weil die "Schule für Alle" im Widerspruch zu unserem selektierenden Schulsystem steht. Es braucht Räume, in denen alle nach ihrem Tempo lernen können: mit qualifizierten Pädagogen, die auch für das Thema Ausgrenzung sensibilisiert sind. Ableismus, das Fachwort für Behindertenfeindlichkeit, beschreibt die gesellschaftlichen Probleme, die die Inklusion zusätzlich erschweren.
Orientierung an Leuchtturmprojekten
Ziel aber sollte es sein, dass alle Kinder lernen mit ihrer Verschiedenheit umzugehen. Weil sie es als Erwachsene einfacher haben, da ihr Miteinander zur Normalität wird. In Ländern wie Italien oder in den USA kann man die gesellschaftlichen Effekte einer frühen Inklusion im Umgang mit behinderten Menschen im öffentlichen Raum erleben.
Deshalb brauchen wir Maßnahmen, die sich an den Leuchttürmen orientieren. Einfach nur punktuell machen, geht nach hinten los. Das zeigt das Beispiel in Frankfurt am Main, als das Dezernat für Integration und Bildung erst kürzlich die Zukunft der städtischen Kindergärten im Schnellverfahren plante.
Flächendeckend ein Förderkind pro Kindergarten sollte es dort ab diesem Sommer geben. Einrichtungen, die seit Jahren mit einem Schlüssel von fünf behinderten Kindern in einer Gruppe von insgesamt 15 Kindern gearbeitet hatten, sollten die Zahl ihrer Förderkinder entsprechend abspecken.
Eltern und Inklusionsbefürworter protestierten: Warum die Vorbildeinrichtungen schließen und und warum soll es fortan nur ein behindertes Kind pro Einrichtung geben dürfen? Vereinzelung ist kein Schlüssel zur Inklusion.
Das System dient dazu, sich freizukaufen
Es geht vor allem um das wie: wie gefördert und unterstützt wird - auch auf dem Arbeitsmarkt, wo in zehn Jahren Inklusion die Beschäftigungsquote kaum gestiegen ist.
Behindertenaktivisten wie Raul Krauthausen kritisieren zurecht, dass ein System, geschaffen wurde, das vor allem dazu dient, sich frei zukaufen. 2900 Werkstätten in Deutschland mit etwa 300.000 Angestellten mit einem Lohn von durchschnittlich 180 Euro sind nicht mit dem Inklusionsgedanken vereinbar. So wie der Weg in die Werkstatt klar vorgegeben wird, müsste es auch einen Weg wieder hinaus geben.
Es hat der Inklusionsbewegung geschadet, dass ihre Probleme nicht differenziert genug diskutiert wurden. Auf dem Weg zur inklusiven Gesellschaft brauchen wir Kraft, Geld und den Willen dazu. Ein System, das Menschen über Jahrzehnte in Sondereinrichtungen abgestellt hat, ist nicht einfach so rückgängig zu machen.
Dazu müssen wir auch die Normen unserer Leistungsgesellschaft hinterfragen. Eine Behinderung ist kein menschliches Defizit. So sollte besonders der Grundsatz der Behindertenrechtskonvention zum Leitmotiv politischer Entscheidungen werden. "Nicht über uns, ohne uns!"