Zehn Jahre Kanzlerin

Wie Angela Merkel alle überraschte

22. November 2005: Der bisherige Bundeskanzler Gerhard Schröder übergibt in Berlin das Bundeskanzleramt an Kanzlerin Angela Merkel
22. November 2005: Der bisherige Bundeskanzler Gerhard Schröder übergibt in Berlin das Bundeskanzleramt an Kanzlerin Angela Merkel © picture alliance / dpa / Michael Hanschke
Von Stephan Detjen |
Noch vor Kurzem mutmaßten einige, Angela Merkel könnte ihr Amt aufgeben, um als erste Kanzlerin in die Geschichte einzugehen, die das Ende ihrer Amtszeit autonom bestimmt. Doch zum 10-jährigen Amtsjubiläum demonstriert sie Kampfeslust - und sogar Lebensfreude.
Der erste Glückwunsch kam verfrüht, nämlich bereits am Freitag beim CSU Parteitag in München. Seehofer:
"Ich gratuliere Dir für Dein Amtsjubiläum, das Du in diesen Tagen hast: Zehn Jahre Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland!"
Angela Merkel hatte eben ihre Rede an die CSU Delegierten beendet und für ihre Flüchtlingspolitik geworben. Doch der schwierigste Teil der Mission stand ihr erst noch bevor. Sechs Minuten lang ließ der CSU Chef die Bundeskanzlerin neben sich stramm stehen, während er ihr unter dem Jubel der Delegierten die Forderung nach einer Obergrenze für die Aufnahme von Flüchtlingen einhämmerte.
Bevor er Merkel entließ, gab Seehofer der Jubilarin eine Botschaft mit auf den Weg, die mehr wie eine Drohung klang:
"Deshalb kann ich Dir nur sagen: wir sehen uns zu diesem Thema wieder."
Flucht ins sichere Herkunftsland Berlin
Angela Merkel trat von der Münchner Parteitagsbühne ins Jubiläumswochenende ab, als gelte es die Flucht ins sichere Herkunftsland Berlin anzutreten. Noch einmal war ihr und der Öffentlichkeit vor Augen geführt worden, dass ihr Amtsjubiläum mit der schwierigsten Herausforderung ihrer Kanzlerschaft zusammenfällt. Schon eine Woche vorher, während sich zeitgleich in Paris die Dschihadisten auf ihren mörderischen Weg machten, musste Merkel im Fernsehen erklären, ob sie die Zügel der Regierung aus der der Hand verloren hat:
Frey: "Hat eine Bundeskanzlerin, die zuerst die Grenzen öffnet und zwei Monate später nicht mehr weiß, wie viele Flüchtlinge eigentlich ins Land gekommen sind, die Lage noch im Griff oder hat sie schon die Kontrolle verloren?"
Merkel: "Die Bundeskanzlerin hat die Lage im Griff, auch die ganze Bundesregierung",
beteuerte Merkel in der ZDF Sendung "Was nun?" und schlug einen Ton an, den man lange nicht von ihr gehört hatte.
Merkel: "Es geht darum, dass ich in der Tat kämpfe. Kämpfe, für den Weg, den ich mir vorstelle, für meinen Plan, den ich habe – und dafür, mit aller Kraft einzustehen, ja! Und ich bin nicht die erste Bundeskanzlerin, die um etwas kämpfen musste."
Sechs von zehn Jahren regierte Merkel präsidial
Dass Merkel auch beharrlich und unerschrocken kämpfen kann, hatten manche schon vergessen. Sechs von zehn Jahren ihrer Amtszeit regierte sie in oft mehr präsidial moderierendem Stil als Kanzlerin großer Koalitionen. Mit Entscheidungen wie denen zur Abschaffung der Wehrpflicht, der Energiewende und einer liberalen Familienpolitik rückte sie ihre Partei weit in die politische Mitte und machte sie in alle Richtungen anschlussfähig.
Ihr größtes Ansehen erwarb sich Merkel auf den internationalen Bühnen, am Anfang als Klimakanzlerin, dann als machtvolle Hüterin der europäischen Währungsstabilität. Durch die Flüchtlingskrise aber ist sie mit einer ganz neuen Herausforderung konfrontiert. Skeptische Beobachter wie der Politikwissenschaftler Gero Neugebauer meinen, dass sie einen Wendepunkt in der Karriere Merkels markieren könnte:
Neugebauer: "Ich sehe eine Zäsur. Die Zäsur ist dadurch bestimmt, dass sie bei der Verkündung ihres Willkommens nicht kalkuliert hat, wer eigentlich in welchem Umfang beteiligt sein muss, sein will und welche Konsequenzen das hat."
Andere dagegen sehen gerade in der Zuspitzung der Krisen durch Flüchtlingsbewegung und terroristische Bedrohung eine geradezu historische Chance für die politische Krisenmanagerin Merkel. "The indispensable" – die Unverzichtbare titelte die britische Zeitschrift "The Economist" in einer Eloge zum Amtsjubiläum. Während sie zu Hause um den Rückhalt in denen eigenen Reihen kämpfe, werde sie in Europa wie nie zuvor als Führungsfigur gebraucht, meint Andreas Kluth, Berliner Bürochef des Economist - gerade wegen ihrer wertegebundenen Flüchtlingspolitik:
Kampfeslust - und Lebensfreude
Kluth: "Wir fanden das auch nicht irrational, sondern einfach richtig. Für uns ist da ein Kontrast zwischen eben Frau Merkels Werten und Viktor Orbán im Osten aber auch im Westen und zum Teil auch David Cameron in unserem Großbritannien. Er ist übrigens ein gutes Beispiel, warum wir Frau Merkel für unverzichtbar halten."
In Deutschland hatten Journalisten gemutmaßt, Merkel werde ihr Amt im Laufe dieses Jahres aufgeben, um als erste Kanzlerin in die Geschichte einzugehen, die das Ende ihrer Amtszeit autonom bestimme. Eine Fehleinschätzung: Wenn sie nicht an der Flüchtlingskrise scheitert, könnte das Kapitel ihrer politischen Biografie, das in den Geschichtsbüchern Bestand einmal Bestand haben wird, gerade erst beginnen. Merkel jedenfalls demonstriert nicht nur Kampfeslust, sondern Lebensfreude. Keine Spur von Amtsmüdigkeit nach zehn Jahren im Kanzleramt
Merkel: "Also ich stehe den Bürgerinnen und Bürgern für diese Legislaturperiode zur Verfügung und ich habe den Eindruck, die Arbeit ist nicht weniger geworden. Aber es macht auch Freude an so einem großen – an so einer Riesenaufgabe ... es ist ja eine der größten Herausforderungen, die wir in der Geschichte der Bundesrepublik bewältigen mussten. Und der müssen wir uns stellen. Und ich glaube, dass wir das schaffen werden."
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