Zehn Jahre nach der Staatspleite

Von Julio Segador · 16.01.2012
Vor zehn Jahren war Argentinien pleite. Der Peso kollabierte, und die Banken schlossen ihre Türen zu. Nun hat sich die Ökonomie des Staates erholt. Den neuen, nationalen Weg Argentiniens haben vor der verstorbene Staatspräsident und seine Frau und Nachfolgerin Cristina Kirchner geprägt.
Die Avenida de Mayo in Buenos Aires. Schwere Motorräder blockieren die vierspurige Prachtstraße. Im Schritttempo führen sie den Demonstrationszug an. Die Menschenmenge hat sich an der Plaza de Mayo, im Herzen der argentinischen Hauptstadt in Gang gesetzt, Frauen und Kinder marschieren in der ersten Reihe.

Este pueblo merece la victoria, steht in großen roten Lettern auf dem schwarzen Plakat, das sie vor sich her tragen. Dieses Volk verdient den Sieg.

Die Menschen gehen an diesem Dezembertag die Strecke ab, wo vor genau zehn Jahren fünf Menschen erschossen wurden. Das Zentrum von Buenos Aires glich damals einem Schlachtfeld. Das Land war pleite, die Bürger protestierten auf den Straßen, Polizei und Militär schossen auf die eigene Bevölkerung. Gastón Riva war einer dieser Toten. An ihn wird vor dem Eingang einer Bank erinnert.

Gastón Riva protestierte wie Tausende andere Argentinier gegen die Lebensverhältnisse im Land. Auch er war mit einer Pfanne auf der Straße, schlug mit einem Löffel dagegen aus Protest gegen die politische Klasse. Auf der Avenida de Mayo, direkt vor dem Eingang der Bank, traf ihn eine Kugel in die Brust. Seine Frau María, die mit ihren damals noch kleinen Kindern zu Hause geblieben war, erlebte den Tod ihres Mannes vor dem Fernsehgerät live mit.

María: "Ich konnte es nicht glauben. Ich bekam alles im Fernsehen mit. Ich sah, wie sie ihn tot abtransportierten. Ich war wie erstarrt. Ich wusste ja, dass er dort war. Erst redete ich mir ein, dass er es nicht war, aber er war es. Eine grässliche Erfahrung, erschütternd, ich kann es mir bis heute nicht erklären. Sehr traurig alles."

Gastón Riva war einer von 5 Toten in Buenos Aires, von 38, die es im ganzen Land gab. Wer Gastón, einen jungen Mann von 30 Jahren, damals erschoss, weiß man bis heute nicht. María, ihre Kinder und die vielen Hundert, die sich an dem Demonstrationszug beteiligen, protestieren auch gegen die Straflosigkeit, die herrschte und herrscht.

María: "Ich bin schon empört. Wenn ich zehn Jahre zurückblicke, hätte ich nie gedacht, dass es bis heute noch keine Gerechtigkeit gibt. Dass bis heute keiner der Täter im Gefängnis sitzt. Alle, die wegen dieser Taten bisher vor Gericht mussten, sind frei. Das empfinde ich, wenn ich an jene denke, die auf diesen Straßen ihr Leben ließen."

Böller zu Ehren von Gastón Riva und der anderen Männer, die in diesen wirren, chaotischen, gewalttätigen Tagen zur Jahreswende 2001/2002 getötet wurden. Anfang 2002 betrug die Schuldenrate Argentiniens fast 150 Prozent des Bruttoinlandproduktes. Das Land war mit mehr als 170 Milliarden US-Dollar hoffnungslos überschuldet. Roberto Lavagna gibt dem Internationalen Währungsfonds eine Mitschuld an der Krise Argentiniens: Die vielen Kredite führten Argentinien in eine Schuldenspirale, aus der es kein Entrinnen gab.

Lavagna: "Ohne Zweifel, und ohne, dass ich dem IWF die alleinige Schuld gebe. Die größte Schuld tragen immer die politischen Regenten des Landes. Aber es ist schon auch so, dass der Währungsfonds mehr als 30 Mal Kreditanträge Argentiniens prüfte, und in allen Fällen gab es ein einstimmiges Votum im IWF-Direktorium, das Land mit Krediten weiter zu stützen. Deshalb bin ich schon der Meinung, dass es eine klare Verantwortung des Währungsfonds gibt."

Roberto Lavagna wurde Anfang 2002 Wirtschaftsminister Argentiniens. Er beendete die Schuldenpolitik des Landes. In Washington teilte Lavagna dem damaligen IWF-Direktor und späteren deutschen Bundespräsidenten Horst Köhler mit, dass er einen 25 Milliarden US-Dollar Kredit nicht annehmen werde. Köhler reagierte bei der Unterredung verblüfft. Er konnte nicht glauben, dass jemand die Segnungen des IWF, nämlich frisches Geld, ablehnen würde.

Lavagna: "Ich dachte in diesem Moment, dass es zwischen meinem spanisch gefärbten Englisch und dem eher deutschen Englisch Köhlers ein Verständigungsproblem gäbe. Aber nein. Es passte einfach nicht in die Vorstellung des IWF. Ich sagte ihm: Argentinien zieht seine Kreditanträge zurück.

Entweder Argentinien schafft es aus eigener Kraft oder gar nicht. Denn: Neue Schulden hätten die Situation nur verschlimmert. Und so war es auch: Dadurch, dass wir keine neuen Kredite aufnahmen, konnte Argentinien schon bald wieder eine eigenständige Wirtschafts- und Sozialpolitik formulieren."

Volksfeststimmung vor der Casa Rosada, dem rosafarbenen Regierungspalast im Zentrum von Buenos Aires. Zehntausende haben sich auf der traditionellen Plaza de Mayo versammelt um den Amtsantritt von Staatspräsidentin Cristina Kirchner nach ihrer Wiederwahl zu feiern.

Anders als noch vor zehn Jahren sind die Menschen in Buenos Aires und im ganzen Land mit ihren Politikern zufrieden. Die Präsidentin wurde eben erst mit großer Mehrheit wiedergewählt. Das Wachstum im Land ist hoch. Neues Selbstbewusstwein hat die Menschen erfasst. Ein Selbstbewusstsein, das viele Bürger im Land auf einen Politikwechsel zurückführen. Und den verbinden die meisten mit dem Namen Kirchner.

Ein Aufschwung, der bei den Menschen auch ankommt. Die Einkaufszentren in Buenos Aires und vielen anderen Städten in Argentinien sind voller Kunden. Die Menschen haben deutlich mehr Pesos in den Geldbeuteln, sie konsumieren. Von globaler Krise ist in dem südamerikanischen Land bisher jedenfalls nichts zu spüren. Das Argentinien, das seit der Staatspleite nicht mehr in die internationalen Finanzmärkte integriert ist, hat Erfolg mit seinem eigenen Weg. Die Ankurbelung des Konsums ist eines der Erfolgsrezepte des früheren Wirtschaftsministers von Nestor Kirchner, Roberto Lavagna. Doch das war nicht alles:

"In diesem Prozess gab es einige fundamentale Dinge: Zum einen setzten wir darauf, dass der Konsum der Motor sein sollte, der die Gesundung der Wirtschaft vorantreibt. In Argentinien war über mehr als 20 Jahre nur auf Exporte oder Investitionen Wert gelegt worden.

Der Konsum war da nur lästiges Beiwerk. Das Zweite entscheidende: Argentinien brauchte einen Handelsüberschuss. Und drittens mussten wir uns eingestehen, dass unsere Schulden ein Niveau erreicht hatten, das unmöglich zurückbezahlt werden konnte. Eine Umschuldung war unumgänglich. Und ein beträchtlicher Schuldenerlass, also ein ‚haircut’."

Bei 75 Prozent sollte dieser haircut, der Schuldenerlass, zunächst liegen, am Ende waren es immer noch mehr als 65 Prozent. Manche, vor allem ausländische Gläubiger akzeptierten den Schuldenschnitt, viele andere nicht. In Deutschland und Italien laufen noch heute zahlreiche Klagen gegen den Pleitestaat Argentinien.

Juan Seliman geht in diesen Tagen wieder häufiger an der Avenida de Mayo entlang. Vor zehn Jahren war er hier beinahe täglich. Mit Töpfen und Pfannen demonstrierte auch er auf den Straßen im Zentrum von Buenos Aires, warf Pflastersteine an die verbarrikadierten Türen der Banken. Aus Protest gegen den sogenannten "corralito". Die Menschen konnten nur noch geringe Beträge in Pesos von ihren Konten abheben. Dadurch sollte eine massive Kapitalflucht in den Dollar verhindert werden. Anfang 2002 wurde der Peso endgültig abgewertet. Juan Seliman verlor wie viele tausend anderer Argentinier bis zu drei Viertel seiner Ersparnisse auf den Giro- und Festgeldkonten. Der Staat schulde ihm noch heute mehr als 30.000 US-Dollar, meint der durchtrainierte Kaufmann. Privates Geld und Vermögen seines Unternehmens, eines kleinen Sportgeschäftes.

Seliman: "Die demokratischen Staaten haben eine geltende Verfassung. Und nur wenige Monate vor dem ‚corralito’ verabschiedete der Kongress ein Gesetz zur "Unberührbarkeit der Konten". Dieses Gesetz garantierte den Bürgern, dass die Konten sicher seien. Und daher gibt es auch keine Rechtfertigung dieses brutalen Eingriffes. Es ist eine klare Verletzung der verfassungsmäßigen Rechte der Bürger im Land. Das war eine Falle. Die Argentinier legten ihr Geld an, und die Konten waren gesetzlich geschützt. Daher gibt es keine Rechtfertigung. Man muss sich an die Gesetze halten."

Bis heute geht Juan Seliman immer wieder zur Bank, fordert sein Geld zurück. Und immer wieder weisen ihn die Banker auf die rechtliche Lage hin. Sein Geld bekommt er nicht mehr. Der rasante Aufstieg Argentiniens hat auf das Schicksal vieler tausend Kleinsparer im Land - gerade aus der Mittelschicht - keine Rücksicht genommen. Sie verloren einen Teil ihrer Ersparnisse - für immer.

Die Verbitterung darüber ist groß. Zahlreiche Unternehmer konnten dagegen ihre Vermögen rechtzeitig außer Landes bringen. An manchen Tagen zum Jahresende 2001 flossen Milliardenbeträge aus dem Finanzsystem ab. Betriebe wurden ohne Vorwarnung geschlossen, die Eigentümer waren ins Ausland geflüchtet. Viele Arbeiternehmer erfuhren erst frühmorgens, als sie in ihre Betriebe kamen, dass die Unternehmen nicht mehr existierten. Aus der Not kam es in Argentinien zu einem Phänomen, das die Industrie-Produktion in vielen Betrieben am Leben erhielt und deshalb einen großen materiellen, aber auch psychologischen Anteil am Aufschwung hat. Die "fábricas recuperadas" – die zurückgewonnenen Betriebe.

Oscar Castellani führt stolz durch den Betrieb, in dem er vor vielen Jahren als einfacher Arbeiter seine Lehre begann, und dessen Mit-Eigentümer er nun ist. Die schwere Krise vor 10 Jahren machte es möglich.

Cooperativa de Trabajo Union y Fuerza – steht draußen auf einem kleinen Schild am Eingang. Die Genossenschaft Einheit und Kraft. Innen im Betrieb stellen die Arbeiter Kupferrohre für den Sanitär- und Elektrohandel her.

Der Betrieb ganz im Süden von Buenos Aires war die erste "fábrica recuperada" in Argentinien. Der erste Betrieb, den die Eigentümer über Nacht ausplünderten und stehen ließen, den die Belegschaft umgehend besetzte und weiterlaufen ließ. Oscar erinnert sich an die turbulenten Tage im Jahr 2001.

Oscar: "Wir mussten unsere Arbeit verteidigen. Wenn man auf der Straße stand, da gab es nichts. Wir waren mitten in der Krise, also im Nichts. Wir standen mit dem Rücken zur Wand und marschierten geradezu auf den Abgrund zu. Wir konnten nicht anders. Wir mussten alles tun, um den Betrieb wieder zum Laufen zu bringen. In diesen Monaten gingen viele meiner Kollegen zum Betteln, zum Beispiel auf den Markt, wir verdienten ja nichts. Aber wir mussten da durch, wir hatten nichts anderes. Geld war nicht da, rein gar nichts."

Im ganzen Land gibt es mehr als 200 solcher "fábricas recuperadas". Als das Ende der Krise absehbar war, wollten viele Unternehmer ihren Besitz wieder zurückerlangen. Es folgten in vielen Fällen jahrelange Prozesse, meist mit gutem Ausgang für die neuformierten Genossenschaften. Kein einfacher Weg, meint Oscar Castellani, wenn er zurückblickt. Er und seine Kollegen mussten umdenken und wie Unternehmer handeln.

Oscar: "Wir begannen zu arbeiten und dachten nur nach vorne. Es musste weitergehen. Es war unglaublich schwer einen Betrieb zum Laufen zu bringen, der komplett am Boden lag. Der Unternehmer hatte nichts mehr investiert, viele Maschinen gingen nicht mehr, und wir standen immer wieder vor der Entscheidung: Nehmen wir unseren Lohn oder lassen wir das Geld im Betrieb um Rohstoffe oder Maschinen zu kaufen. Und oft genug blieb das Geld im Unternehmen, sonst hätten wir in der darauf folgenden Woche keine Arbeit mehr gehabt."

Die Krise von 2001 scheint weit entfernt. Dennoch richten nicht wenige bange Blicke nach Europa. Vieles von dem, was Griechenland derzeit durchlebt, haben die Menschen in Argentinien am eigenen Leib erfahren. Goldene Jahre, in denen keinen wirklich interessierte, wie viele Schulden das Land anhäufte, die Finanzkrise, der Absturz mit den schlimmen Folgen. Rezession, Arbeitslosigkeit, Depression, Armut. Adolfo Pérez Esquivel, der argentinische Friedensnobelpreisträger von 1980, macht seinen Landsleuten dennoch Mut. Die Krise, die Argentinien vor einer Dekade erlitt, führte dazu, dass sich sein Land neu positionierte. Es hätte schlimmer kommen können, meint der 80-jährige Bürgerrechtler.

Pérez Esquivel: "Es zeigte sich so etwas wie die Kreativität der Menschen. Etwa beim Tauschhandel. Das ist eigentlich eine Tradition der Indios, bis heute. Es wurden auch Dienstleistungen gegen Waren getauscht, und das passierte der Mittelklasse, die mit so etwas niemals gerechnet hatte. Wir lernten viel über Solidarität. Das argentinische Volk lernte sich neu kennen.

Es fehlen noch viele Dinge. Aber die Menschen hatten Hoffnung. So wie wir es beim Weltsozialforum immer formulieren. Eine andere Welt ist möglich. Aber nur, wenn wir dafür arbeiten. Wunder wird es nicht geben. Für die Wunder muss schon das Volk selber sorgen."