Hans Rusinek beschäftigt sich mit Transformation der Wirtschaft und Zukunft der Arbeit als Forscher, Berater und Autor. Er promoviert in St. Gallen am Institut für Wirtschaftsethik zu Sinn und Arbeit. Als Berater hilft er Organisationen ihren größeren Sinn, ihren Purpose, zu finden und zu leben. Als Autor ist er einer der Chefredakteure von Transform, einem Printmagazin, das sich mit Fragen nach Lebensglück, Nachhaltigkeit und gesellschaftlichem Wandel beschäftigt und Träger des Förderpreises für Wirtschaftspublizistik der Ludwig-Erhard-Stiftung.
Umgang mit Zeit
Den adäquaten Umgang mit Zeit haben wir in der Arbeitswelt noch nicht gelernt, meint der Arbeitsforscher Hans Rusinek. © Getty Images
Das alltägliche Gehetze ist gefährlich
Zeit ist Geld. Diese vielen bekannte Redewendung besagt, dass Zeit genauso wertvoll ist wie Geld. Arbeitsforscher Hans Rusinek hält dagegen: Zeit ist viel wertvoller. Wie also damit umgehen?
Wir alle leben im Jetzt, in unserem gemeinsamen Zeitraum, der uns mit anderen verbindet. Durch Remote Work haben wir gelernt, dass dieser Zeitraum viel entscheidender ist, als dass wir zusammen im gleichen physischen Raum, im gleichen Büro etwa sind. Den adäquaten Umgang mit Zeit haben wir in der Arbeitswelt aber noch nicht gelernt.
Das Thema Zeit ist faszinierend. Hier ein Fun Fact aus der Neurowissenschaft: Die weiß nämlich, dass wir die Welt in einem Zeitfenster von 15 Sekunden wahrnehmen. Das nennen wir einen Moment. Der Rest ist schon Vergangenheit oder noch Zukunft. Schuld daran ist der Nucleus suprachiasmaticus, der zwischen unseren Augen ein paar Zentimeter hinter der Stirn liegt, und der obendrein lichtempfindlich ist, weil sich unser Zeitempfinden im Gegensatz zum Takt der Uhrzeit nach den Rhythmen der Natur richtet. Ein entscheidender Unterschied, zu dem wir noch kommen werden.
Uns fehlt Zeit für Empathie und Erfolg
Aus der Welt des Arbeitens gibt es allerdings alles andere als Fun Facts.
Dort haben wir keine Zeit für Verantwortung: Eine Studie untersuchte "überlastete Aufsichtsratsmitglieder", Menschen, die in drei oder mehr Aufsichtsräten aktiv sind. Sie zeigte, dass derart vielbeschäftigte Aufsichtsräte wesentlich weniger verlässlich bei der Überwachung von Fehlverhalten, etwa im Umweltbereich sind.
Wir haben auch keine Zeit für Empathie: Eine andere Studie untersuchte Richter, die über Bewährungsanträge von Strafgefangenen entscheiden. Das Ergebnis: Bei jeder Entscheidung ohne vorherige Pause nahm die Anzahl der positiven Urteile kontinuierlich ab, von rund 65 Prozent am Anfang auf fast null. Machten die Richter eine Pause, dann stieg die Zahl positiver Richtersprüche wieder. Gehetzte Richter entscheiden also gegen Angeklagte. Sollten Sie also einmal vor Gericht stehen: Versuchen Sie einen Termin nach der Mittagspause zu bekommen.
Oft nehmen wir uns nicht einmal Zeit für Erfolg. Über den absurd erfolgreichen Investor Warren Buffett sagt sein Geschäftspartner Charlie Munger: "Er hat eine Menge Zeit zum Nachdenken. Wenn man sich seinen Terminkalender ansieht, steht da manchmal einfach: Dienstag Haarschneidetag." Mit anderen Worten: Dienstag ist hetzfreie Zone. Wer kann das von seinem Arbeitsalltag behaupten?
Maschinelle contra biologische Zeit
Nach all dem, was wir über menschliche Kognition wissen, ist das alltägliche Gehetze im Arbeits- und Privatleben höchst gefährlich und unproduktiv. Verantwortung ist eine zeitintensive Aufgabe. Krisen bewältigen ist zeitintensiv, Menschlichkeit ist zeitintensiv. Wo ist Zeit für kluge, erholte Entscheidungen? Wo ist Zeit für ein Erneuern von Ressourcen?
Und so sind auch die Krisen mit unserer Umwelt im Kern Zeitkrisen, behauptet der Zeitforscher Jonas Geissler. Seiner Ansicht nach gibt es eine maschinelle Zeit, die unsere Arbeitswelt dominiert, einen Takt wie der eines Sekundenzeigers, tick-tick. Mit diesem hektischen Gleichschritt bauen wir den Planeten ab tick-tick, mit dieser Logik muss jedes Wachstum ins Unendliche gehen tick-tick und so zerarbeiten wir auch uns selbst tick-tick.
Und: Es gibt eine biologische Zeit, die wir aus der Natur kennen, einen Rhythmus, wie Ebbe und Flut, Tag und Nacht, Jahreszeiten, das eben nur zeitweise Wachstum und dann wieder Vergehen von Ökosystemen, ein Auf und Ab aus Anspannung und Entspannung.
Zeitnot ist selbst- und weltzerstörend
Und jetzt kommt die Überraschung: Auch wir sind biologische Wesen, keine Maschinen - auch nicht auf der Arbeit. Langsame Rhythmen prägen uns, ermöglichen Regeneration, Kreativität und Verantwortung. Ein hektischer Takt bestimmt aber den Status quo der Arbeitswelt, unsere Zeitnot und Gehetze ist im Grunde selbst- und weltzerstörerisch. Deshalb muss ein Wirtschaften, das mit der Natur um uns und in uns verantwortungsvoll umgehen will, zuerst einen besseren Umgang mit dem finden, was uns alle verbindet. Es ist Zeit.