Zeit zu leben, Zeit zu arbeiten

Zu Gast: Jürgen Rinderspacher und Christiane Flüter-Hoffmann · 01.08.2009
"Ich habe keine Zeit" – dieser Stoßseufzer ist den meisten von uns in Fleisch und Blut übergegangen. Wir haben zwar mehr technische Helfer denn je, aber dennoch - oder gerade deswegen - scheint uns die Zeit zwischen den Fingern zu verrinnen. Durch Laptop und Telearbeit, Internet & Co vermischen sich Arbeit und Privates immer mehr.
"Wir leben längst in einer Rund-um-die-Uhr-Gesellschaft", sagt der Zeitforscher Jürgen Rinderspacher. Der Sozialwissenschaftler und Theologe beschäftigt sich seit mehr als 30 Jahren mit unserem Umgang mit der Zeit.

"Es tut nicht gut, weil es dazu führt, dass Phasen, in denen man ruht – zum Beispiel nachts – entfallen. Gucke ich nachts noch in meine E-Mails? Das war früher gar nicht drin, da kam einmal täglich die Post. Arbeit und Leben vermischen sich, und ich glaube, dass die Bedingungen dazu führen, dass man sich selbst ausbeutet. Es gibt die kollektiven Grenzen nicht mehr."

Jürgen Rinderspacher ist ein Mahner, der davor warnt, dass sich die Menschen zu sehr verplanen, dass wir wichtige Privatinseln aufgeben – zum Beispiel den Sonntag. Deshalb ist er auch ein entschiedener Gegner der Sonntagsöffnung von Geschäften. Zeit sei ein soziales Bindemittel, etwas, was man miteinander teilen könne und solle. Zeit sei ein "Lebensmittel", ein Gut, das es zu schützen gelte.
Analog zum Güterwohlstand hat er daher den Begriff des "Zeitwohlstands" geprägt.

Einer seiner Wahlsprüche lautet: "Mit der Zeit ist es wie mit der Gesundheit, man merkt erst, wie wichtig sie ist, wenn man sie nicht mehr hat."

Christiane Flüter-Hoffmann hat einen anderen Blick auf den Umgang mit unserer Lebenszeit. Die Arbeitszeit-Expertin vom Institut der deutschen Wirtschaft Köln beschäftigt sich mit der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Arbeitszeitmodellen, Telearbeit.

Ihr Ziel: Arbeits- und Lebenszeit mehr miteinander in Einklang zu bringen.
Ihr neuestes Projekt ist die "lebenszyklusorientierte Personalpolitik".
Die Idee: Arbeitnehmer haben – je nach Lebensphase - unterschiedliche Bedürfnisse und Möglichkeiten, ihre Arbeitskraft einzubringen: Wollen wir in der Rushhour des Lebens – also zwischen 25 und 40 Jahren – alles reinpacken? Karriere? Ein Haus bauen, Kinder kriegen? Ihr liegt daran, dies alles zu entzerren, die Arbeit je nach Lebensphase flexibler zu gestalten.

"Das heißt aber auch, die Personalpolitik vom Kopf auf die Füße zu stellen. Man schaut, in welcher Situation befindet sich der Arbeitnehmer: Steht er am Anfang seiner Karriere, ist er bereits aufgestiegen? Er hat andere Bedürfnisse, wenn Kinder kommen. Dann sind unter Umständen Sabbaticals notwendig. Oder wenn Angehörige gepflegt werden müssen: Eine Million Menschen werden zu Hause gepflegt, Dreiviertel davon wird von Frauen erledigt. Wir haben gleichzeitig die best qualifizierteste Frauengeneration, und da müssen Weichen gestellt werden. In jedem Zyklus des Lebens schaut man, was sind die Bedürfnisse, und wie kann man trotzdem so produktiv wie möglich arbeiten."

Sie selbst unterliegt der "Vertrauensarbeit", das heißt, sie kann kommen und gehen, wann sie will und arbeiten, wo sie will – auch etwaige Konferenzen werden flexibel vereinbart. Diese flexible Gestaltung gab ihr die Möglichkeit, in den letzten 14 Jahren insgesamt vier Familienmitglieder zu pflegen.

"Zeit zu leben, Zeit zu arbeiten – Wie gehen wir mit unserer Lebenszeit um?"
Darüber diskutiert Dieter Kassel heute gemeinsam mit der Arbeitszeit-Expertin Christiane Flüter-Hoffmann und dem Zeitforscher Jürgen Rinderspacher. Hörerinnen und Hörer können sich beteiligen unter der kostenlosen Telefonnummer 00800 – 2254 2254 oder per E-Mail unter gespraech@dradio.de.


Literaturhinweis:
Jürgen P. Rinderspacher, Irmgard Herrmann-Stojanov , "Schöne Zeiten - 45 Betrachtungen über den Umgang mit der Zeit", Dietz Verlag Bonn, 2006

Informationen im Internet:
Über Christiane Flüter-Hoffmann: www.iwkoeln.de/tabid/79/default.aspx