Zeitdiagnose

Schämen als Kulturtechnik

Von Eike Gebhardt · 24.03.2014
Anscheinend leben wir in einer Kultur der Schamlosigkeit. Doch was bedeutet das für das Menschsein, fragt sich Ulrich Greiner. Brauchen wir nicht so etwas wie Scham, um als moralisches Subjekt zu funktionieren?
Der Titel selbst ist schon die These. Seit zwei Jahrzehnten überfluten uns die Bücher zur Gefühlskultur, teils aus historischer, teils aus psychologischer, aus philosophischer und natürlich neurologischer Sicht.
Was heute cool ist, galt zum Beispiel einst als kalt, und doch: Öffentliche Selbstentblößung – in jeder, auch emotionaler Hinsicht - ist heute gleichfalls angesagt, im Fernsehen wie in den sozialen Medien, ja überall im öffentlichen Raum. Schamverlust?
"Erst die Fähigkeit zur Scham" macht einen Menschen "zum moralischen Subjekt", glaubt Greiner. Man könne "die Geschichte der Menschheit als die Geschichte unterschiedlicher Scham- und Peinlichkeitsempfindungen verstehen, hinsichtlich des Gebotenen oder Erlaubten."
Ob Scham sich freilich immer aus dem kulturellen Über-Ich erklären lässt, scheint ihm mitunter selber fraglich. Auch das Verfehlen individueller Ideale kann ja schamauslösend wirken. Und in der Unterscheidung zwischen Schuld- und Schamkultur - am Beispiel USA und Japan - spielt er die innen- und außengeleitete Leitkultur auch durch: Schamkultur sei durch Konventionen und den Blick der Anderen geprägt bzw. gesteuert, Schuldkultur durch eine verinnerlichte universalistische Moral, typisch für den Westen.
"Man neigt ja dazu, Fragen der Scham vor allem an Sexualität und Nacktheit festzumachen, weil hier die normativen Regelungen und individuellen Empfindlichkeiten besonders augenfällig sind – übrigens in allen Kulturen."
Das sehen Ethnologen oft nicht so eng, und Greiner selbst handelt ein erfreulich breites Themenspektrum ab, nutzt – wenn auch kritisch - die Begriffe von Sennetts Tyrannei der Intimität samt Authentizitätswahn ebenso unbefangen wie David Riesmans außen- und innengeleitete Charaktere, Ruth Benedicts Abgleich kultureller Werte wie auch Norbert Elias' These der zunehmend verinnerlichten Schamkriterien, neben vielen anderen, die durchaus nicht immer Sex im Focus haben.
Beispiele aus der Literatur
Als Literaturkritiker bezieht Greiner die meisten Beispiele eben aus der Literatur, mit gutem Grund: "Das Ich in der Literatur ist immer ein gespiegeltes", und so betont er immer wieder, im Wortsinn, die Reflexivität sozialer Werte: Wer beschämt wen in der Arbeit des Gewissens? Wie wenden wir den Blick der Anderen auf uns selber?
Überraschend manche Lücken. Die Schamlust etwa, überwältigt zu werden und somit befreit von Verantwortung und damit von Scham, scheint ihm keiner Erörterung wert; dabei ist sie ein Leitmotiv erotischer Literatur. Und leider lässt er manche der angedachten Thesen letztlich doch links liegen - so das bei Houellebecq zu Recht betonte Motiv der Verführung, die ja ohne Zustimmung nicht funktionieren kann.
Verführung als Umgangsform, die zu allen amtierenden Normen Alternativen anbietet, mit diskursiver Überzeugungsarbeit, also gewaltfrei: Das wäre ein doch wunderbares Sprungbrett für eine Zeitgeistkritik an den emotionalen Moden, denen Greiner auf die Spur kommen will.
Trotz der vielen tapferen Versuche, den "Kern der Schamkultur" dingfest zu machen – auch mal mit gewagten Pauschalisierungen -, muss Greiner schließlich resignieren:
"Das Feld der Zwänge und Peinlichkeitsrisiken hat sich bis ins vollkommen Unübersichtliche ausgedehnt."

Ulrich Greiner: Schamverlust. Vom Wandel der Gefühlskultur
Rowohlt Verlag, Reinbek 2014
352 Seiten, 22,95 EUR

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