Zeiten des emphatischen Verrisses sind vorbei
Von seiner Machtposition im Literaturbetrieb machte Reich-Ranicki – "auch in personalpolitischen Aspekten" - regen Gebrauch, sagt der führere Verleger Michael Naumann. Er lobt nicht nur den Kritiker, sondern auch dessen schauspielerisches Talent als "Kritikdarsteller".
Joachim Scholl: So haben wir ihn im Ohr und auch vor Augen: Marcel Reich-Ranicki. So populär und zugleich so umstritten wie er war keiner seiner Klasse. Er hat es zu Ruhm und Ansehen gebracht, weit über die Literaturkritik hinaus, die er unbeirrt und energisch vertrat und verteidigte. Millionen sahen zu, wenn er im Fernsehen im Literarischen Quartett Bücher pries oder verriss. Marcel Reich-Ranicki wurde zu der Instanz in der literarischen Öffentlichkeit Deutschlands. Gestern nun das Ende mit 93 Jahren. Im Studio begrüße ich ebenfalls einen langjährigen Mann der Literatur, den früheren Verleger, früheren Kulturstaatsminister Michael Naumann. Guten Morgen!
Michael Naumann: Guten Morgen, Herr Scholl!
Scholl: Marcel Reich-Ranickis erklärter literarischer Liebling war Thomas Mann, und er hätte wohl auch diesen finalen Satz aus dem "Tod in Venedig" geschätzt: "Und noch desselben Tages empfing eine respektvoll erschütterte Welt die Nachricht von seinem Tode." Wie haben Sie die Nachricht aufgenommen vom Tod des Marcel Reich-Ranicki, Herr Naumann?
Naumann: Ja, nicht unerwartet natürlich, aber auch bestürzt, das muss ich schon zugeben.
Scholl: Er war nicht nur ein Literaturkritiker, er war eine Marke. Warum hat eigentlich nur er und kein anderer Kritiker das in den letzten 50 Jahren geschafft?
Naumann: Das hatte sicherlich mit drei Dingen zu tun. Zum einen der Sachverhalt, dass er als Überlebender des Holocaust eigentlich eine außerordentlich überraschende Existenz in Deutschland geführt hat, was Kenner seiner Biografie zu großem Respekt gewissermaßen verhalf. Und zum anderen war er noch etwas ganz anderes als Literaturkritiker, er war auch Kritikdarsteller, er war Schauspieler. Er liebte die Bühne, hatte sich auch einen Akzent, man muss fast sagen zugelegt, das heißt, er konnte den berühmten Reich-Ranicki-Sound. Den hat er gepflegt, der konnte auch anders. Und darüber hinaus gab es noch etwas, was ihn so mächtig gemacht hat: das Telefon. Er war eben nicht nur Literaturkritiker, nicht nur Literaturliebhaber - und im Übrigen auch, wie wir an seiner Biografie gesehen haben, aber auch an seinen unendlich vielen kritischen Texten, ein vorzüglicher Stilist. Er war auch ein Intrigant. Er mischte mit im Verlagswesen, hing oft am Telefon, knüpfte Verbindungen. Man konnte bei ihm zwar kein Lob bestellen und auch keinen Verriss bestellen, aber man konnte Einfluss nehmen. Das habe ich als Rowohlt-Verleger auch versucht.
Scholl: Erzählen Sie mal, wenn Sie sagen, er war ein Intrigant – wie hat sich das bemerkbar gemacht, wie haben Sie das vielleicht auch im persönlichen Gespräch festgestellt?
Naumann: Ich habe, als ich bei Rowohlt anfing, natürlich sofort einen Anruf von ihm bekommen. Ich kannte ihn aus der Zeit noch als junger Mann – 1970 war er noch tätig da –, und er fragte mich: Sagen Sie mal, Herr Naumann, können Sie eigentlich Englisch? Ich hab dann einfach nur "Yep" gesagt, weil ich ja ein paar Jahre in Amerika gelebt hatte, aber es war eigentlich der Versuch, mir gleich klarzumachen, wo der Hammer hängt. Also der Verleger von Updike, der kein Englisch kann, fällt bei Reich-Ranicki durch. Nun fiel also dieses Argument flach, das tat mir gut, und er hat mir auch geholfen.
Scholl: Aber das ist ja schon impertinent, ja. Also anrufen, können Sie überhaupt Englisch?
Naumann: Ja, natürlich, er hatte seine Machtposition innerhalb der "FAZ" und auch des literarischen Milieus Frankfurts, inklusive Fischer und Suhrkamp Verlag, war so gefestigt, dass er sich schon fühlte wie ein Mensch, ein Kritiker, der Einfluss nehmen darf und soll, auch in personalpolitischen Aspekten.
Scholl: Wie groß war aber diese Macht wirklich?
Naumann: Also ich kann nur sagen, ein emphatisches Lob eines Buches durch Reich-Ranicki oder auch durch Karasek und Frau Löffler, die bei ihm ja anfangs mit dabei saßen …
Scholl: Im Literarischen Quartett.
Naumann: … im Literarischen Quartett, also vor allem eben im Fernsehen, konnte Auflagen von bis zu 50.-, 60.000 Exemplaren produzieren. Da lacht der Verleger und der Autor ist dankbar. Aber es zeigt natürlich auch die unglaubliche Macht des Mediums Fernsehen. Eine ähnliche emphatische Rezension in einer Zeitung hat meistens überhaupt keine Folgen.
Michael Naumann: Guten Morgen, Herr Scholl!
Scholl: Marcel Reich-Ranickis erklärter literarischer Liebling war Thomas Mann, und er hätte wohl auch diesen finalen Satz aus dem "Tod in Venedig" geschätzt: "Und noch desselben Tages empfing eine respektvoll erschütterte Welt die Nachricht von seinem Tode." Wie haben Sie die Nachricht aufgenommen vom Tod des Marcel Reich-Ranicki, Herr Naumann?
Naumann: Ja, nicht unerwartet natürlich, aber auch bestürzt, das muss ich schon zugeben.
Scholl: Er war nicht nur ein Literaturkritiker, er war eine Marke. Warum hat eigentlich nur er und kein anderer Kritiker das in den letzten 50 Jahren geschafft?
Naumann: Das hatte sicherlich mit drei Dingen zu tun. Zum einen der Sachverhalt, dass er als Überlebender des Holocaust eigentlich eine außerordentlich überraschende Existenz in Deutschland geführt hat, was Kenner seiner Biografie zu großem Respekt gewissermaßen verhalf. Und zum anderen war er noch etwas ganz anderes als Literaturkritiker, er war auch Kritikdarsteller, er war Schauspieler. Er liebte die Bühne, hatte sich auch einen Akzent, man muss fast sagen zugelegt, das heißt, er konnte den berühmten Reich-Ranicki-Sound. Den hat er gepflegt, der konnte auch anders. Und darüber hinaus gab es noch etwas, was ihn so mächtig gemacht hat: das Telefon. Er war eben nicht nur Literaturkritiker, nicht nur Literaturliebhaber - und im Übrigen auch, wie wir an seiner Biografie gesehen haben, aber auch an seinen unendlich vielen kritischen Texten, ein vorzüglicher Stilist. Er war auch ein Intrigant. Er mischte mit im Verlagswesen, hing oft am Telefon, knüpfte Verbindungen. Man konnte bei ihm zwar kein Lob bestellen und auch keinen Verriss bestellen, aber man konnte Einfluss nehmen. Das habe ich als Rowohlt-Verleger auch versucht.
Scholl: Erzählen Sie mal, wenn Sie sagen, er war ein Intrigant – wie hat sich das bemerkbar gemacht, wie haben Sie das vielleicht auch im persönlichen Gespräch festgestellt?
Naumann: Ich habe, als ich bei Rowohlt anfing, natürlich sofort einen Anruf von ihm bekommen. Ich kannte ihn aus der Zeit noch als junger Mann – 1970 war er noch tätig da –, und er fragte mich: Sagen Sie mal, Herr Naumann, können Sie eigentlich Englisch? Ich hab dann einfach nur "Yep" gesagt, weil ich ja ein paar Jahre in Amerika gelebt hatte, aber es war eigentlich der Versuch, mir gleich klarzumachen, wo der Hammer hängt. Also der Verleger von Updike, der kein Englisch kann, fällt bei Reich-Ranicki durch. Nun fiel also dieses Argument flach, das tat mir gut, und er hat mir auch geholfen.
Scholl: Aber das ist ja schon impertinent, ja. Also anrufen, können Sie überhaupt Englisch?
Naumann: Ja, natürlich, er hatte seine Machtposition innerhalb der "FAZ" und auch des literarischen Milieus Frankfurts, inklusive Fischer und Suhrkamp Verlag, war so gefestigt, dass er sich schon fühlte wie ein Mensch, ein Kritiker, der Einfluss nehmen darf und soll, auch in personalpolitischen Aspekten.
Scholl: Wie groß war aber diese Macht wirklich?
Naumann: Also ich kann nur sagen, ein emphatisches Lob eines Buches durch Reich-Ranicki oder auch durch Karasek und Frau Löffler, die bei ihm ja anfangs mit dabei saßen …
Scholl: Im Literarischen Quartett.
Naumann: … im Literarischen Quartett, also vor allem eben im Fernsehen, konnte Auflagen von bis zu 50.-, 60.000 Exemplaren produzieren. Da lacht der Verleger und der Autor ist dankbar. Aber es zeigt natürlich auch die unglaubliche Macht des Mediums Fernsehen. Eine ähnliche emphatische Rezension in einer Zeitung hat meistens überhaupt keine Folgen.
"Seine Existenz schlug eine Brücke zur Weimarer Republik"
Scholl: Marcel Reich-Ranicki, gestern ist er gestorben, und wir würdigen den Literaturkritiker hier im Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit Michael Naumann. Haben Sie Marcel Reich-Ranicki und Co auch in den Bilanzen gespürt?
Naumann: Oh ja! Ich weiß also ganz genau, eines Tages rezensierte er im Literarischen Quartett Harold Brodkeys Kurzgeschichtenanthologie "Almost Classical Stories" – "Beinahe klassische Geschichten" –, mit der Konsequenz, dass dieser schwierige, aber wunderbare Autor plötzlich eine Auflage von 50.000 Exemplaren hatte innerhalb von wenigen Wochen. Das zeigte ganz einfach die Macht, die das im Fernsehen gesprochene Wort Reich-Ranickis hatte, und natürlich auch die Macht seiner Emphase und die Wirkungskraft.
Scholl: Gestern hat die Kollegin Iris Radisch von der "Zeit" hier im Deutschlandradio Kultur von seinem radikalen Temperament gesprochen. Wie haben Sie diese Energie empfunden, sie ging ja auch vielen auf die Ketten – Ihnen nicht mal auch zwischendurch?
Naumann: Mir ist sie niemals auf den Nerv gegangen. Ich fand das eben immer doch geprägt durch eine große darstellerische, schauspielerische … ein Selbstverständnis, das ihn fast selber gewissermaßen gefressen hat. Er konnte aus seiner selbst gewählten Rolle eigentlich gar nicht mehr ausbrechen. Er musste Reich-Ranicki sein. Wobei eben auch festzustellen ist, der Name – das hat er auch selber irgendwann mal geschrieben – der Name Reich war sein eigener Name, Ranicki hat er einfach mal angenommen. In anderen Worten, es war der Name einer Schauspielerin, hat ihm gut gepasst, hat ihm übrigens auch in der Nachkriegszeit geholfen.
Kurz und gut, ich hab ihn eigentlich immer als genialen Selbstdarsteller, als etwas rückwärts gewandten Literaturkritiker geschätzt und bin ihm dankbar für die Rolle, die er gespielt hat, vor allem aber doch für den Sachverhalt, dass er durch seine schiere Existenz in Deutschland eine Verbindung, eine persönliche Verbindung zu unserer furchtbaren Geschichte hergestellt hat. Er war nicht die gelebte Versöhnung, weiß Gott nicht, aber er war – das ist sowieso ein Begriff, mit dem man sehr vorsichtig umgehen sollte – aber er war doch eine symbolische Existenz, die uns verband mit einer kritischen, intellektuell aufregenden Zeit, nämlich der Weimarer Republik, die ihn mehr geprägt hat als alles, was literarisch danach kam, von der Prägung durch die Geschichte natürlich ganz abgesehen.
Scholl: Ich möchte noch mal das Wort von rückwärts gewandt aufgreifen, das Sie gerade in den Mund nahmen, Herr Naumann. Man hat ihn unter Intellektuellen ja oft ästhetisch nicht ganz für voll genommen. Also immer wieder Thomas Mann, Bertolt Brechts Lyrik, Franz Kafka und die großen amerikanischen Erzähler, das war so sein Koordinatensystem. Mit der Avantgarde konnte man ihn jagen – ich erinnere mich dran, wie er Robert Musils "Mann ohne Eigenschaften" jegliche Qualität absprach. Er war ja dann doch bei vielen unten durch.
Naumann: Oh ja! Ich weiß also ganz genau, eines Tages rezensierte er im Literarischen Quartett Harold Brodkeys Kurzgeschichtenanthologie "Almost Classical Stories" – "Beinahe klassische Geschichten" –, mit der Konsequenz, dass dieser schwierige, aber wunderbare Autor plötzlich eine Auflage von 50.000 Exemplaren hatte innerhalb von wenigen Wochen. Das zeigte ganz einfach die Macht, die das im Fernsehen gesprochene Wort Reich-Ranickis hatte, und natürlich auch die Macht seiner Emphase und die Wirkungskraft.
Scholl: Gestern hat die Kollegin Iris Radisch von der "Zeit" hier im Deutschlandradio Kultur von seinem radikalen Temperament gesprochen. Wie haben Sie diese Energie empfunden, sie ging ja auch vielen auf die Ketten – Ihnen nicht mal auch zwischendurch?
Naumann: Mir ist sie niemals auf den Nerv gegangen. Ich fand das eben immer doch geprägt durch eine große darstellerische, schauspielerische … ein Selbstverständnis, das ihn fast selber gewissermaßen gefressen hat. Er konnte aus seiner selbst gewählten Rolle eigentlich gar nicht mehr ausbrechen. Er musste Reich-Ranicki sein. Wobei eben auch festzustellen ist, der Name – das hat er auch selber irgendwann mal geschrieben – der Name Reich war sein eigener Name, Ranicki hat er einfach mal angenommen. In anderen Worten, es war der Name einer Schauspielerin, hat ihm gut gepasst, hat ihm übrigens auch in der Nachkriegszeit geholfen.
Kurz und gut, ich hab ihn eigentlich immer als genialen Selbstdarsteller, als etwas rückwärts gewandten Literaturkritiker geschätzt und bin ihm dankbar für die Rolle, die er gespielt hat, vor allem aber doch für den Sachverhalt, dass er durch seine schiere Existenz in Deutschland eine Verbindung, eine persönliche Verbindung zu unserer furchtbaren Geschichte hergestellt hat. Er war nicht die gelebte Versöhnung, weiß Gott nicht, aber er war – das ist sowieso ein Begriff, mit dem man sehr vorsichtig umgehen sollte – aber er war doch eine symbolische Existenz, die uns verband mit einer kritischen, intellektuell aufregenden Zeit, nämlich der Weimarer Republik, die ihn mehr geprägt hat als alles, was literarisch danach kam, von der Prägung durch die Geschichte natürlich ganz abgesehen.
Scholl: Ich möchte noch mal das Wort von rückwärts gewandt aufgreifen, das Sie gerade in den Mund nahmen, Herr Naumann. Man hat ihn unter Intellektuellen ja oft ästhetisch nicht ganz für voll genommen. Also immer wieder Thomas Mann, Bertolt Brechts Lyrik, Franz Kafka und die großen amerikanischen Erzähler, das war so sein Koordinatensystem. Mit der Avantgarde konnte man ihn jagen – ich erinnere mich dran, wie er Robert Musils "Mann ohne Eigenschaften" jegliche Qualität absprach. Er war ja dann doch bei vielen unten durch.
"Einmal gesagt, blieb er dabei. Da ist es Stures an ihm"
Naumann: Ich glaube, das Problem bei Reich-Ranicki war, dass er – in seiner Bibliothek zu Hause stand ja Musil –, dass er, wenn er einmal ein vorschnelles Urteil gefällt hat, einfach nicht mehr davon zurückgehen wollte. Ich bin ganz sicher, dass er heimlich Musil gelesen hat, wie Erotomanen heimlich Nabokov lesen, in der Annahme, dass sie dort Stellen finden, die sie sonst nirgendwo sonst finden. So ist das bei ihm sicherlich auch gewesen. Natürlich gehört Robert Musils "Mann ohne Eigenschaften", aber auch seine Kurzgeschichten und Essays zum Feinsten, was es in der deutschen Sprache – und nicht nur in der deutschen Sprache – gibt. Es würde mich doch sehr wundern, wenn er das selber nicht gewusst hätte. Aber einmal gesagt, blieb er dabei. Da ist etwas Stures an ihm.
Scholl: Der Schriftsteller Eckhard Henscheid hat ihn mal "unseren Lautesten" genannt und den "letzten Höhlenbär der Literaturkritik". War Marcel Reich-Ranicki als Typus zuletzt nicht doch auch ein Anachronismus? Die Literaturkritik hat sich ja gewandelt, will man diese Schärfe, diese Aggression im Verreißen wirklich noch – mir fällt jetzt auch das Bild ein auf dem "Spiegel", das Zerreißen, das öffentliche Zerreißen von Grassens "Weites Feld" damals –, ist das nicht vorbei?
Naumann: Ja, offenkundig ist es vorbei. Die zeitgenössische Literaturkritik, die neue Generation, man muss fast schon sagen die zweite Generation nach Reich-Ranicki, ist ausdifferenzierter, hoch gebildet, gewissermaßen mit Derrida und anderen französischen, theoretischen Ansätzen ins Leben entlassen worden. Wenn ich heute Literaturkritiken lese, die doch wesentlich ausgeprägter und differenzierter sind als die der Vergangenheit, dann hab ich allerdings aber oft genug den Eindruck, ich bin in einem Seminar gelandet. Das entspricht dann oft genug auch der Literatur, die besprochen wird. Also in anderen Worten: Diese Tradition, die Alfred-Kerr-geprägte, Heine-geprägte Tradition des emphatischen Verrisses, der Liebeserklärungen auf Zeitungsspalten an einen Autor oder eine Autorin, diese Zeiten sind vorbei. Ich vermisse sie allerdings und muss sagen, bei aller Feinheit und Differenziertheit, juwelierhaften Präzision der deutschen zeitgenössischen Literaturkritik, vermisse ich dann doch hin und wieder einmal den Hammerschlag auf dem Amboss der Kritik.
Scholl: In memoriam Marcel Reich-Ranicki. Gestern ist der Kritiker im Alter von 93 Jahren gestorben. Bei uns war Michael Naumann, der Verleger, der Autor, der frühere Kulturstaatsminister, heute Publizist. Schönen Dank Ihnen für das Gespräch!
Naumann: Gerne!
Scholl: Und über Marcel Reich-Ranickis Rolle als Literaturkritiker und welche Epoche mit ihm zu Ende geht, das vertiefen wir in unserem Gespräch mit Matthias Weichel als MP3-Audio "Feuilleton-Pressegespräch" mit Matthias Weichel (MP3-Audio), dem Leiter der Literaturzeitschrift "Sinn und Form", und mit dieser hatte Marcel Reich-Ranicki eine ganz innige Beziehung.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Scholl: Der Schriftsteller Eckhard Henscheid hat ihn mal "unseren Lautesten" genannt und den "letzten Höhlenbär der Literaturkritik". War Marcel Reich-Ranicki als Typus zuletzt nicht doch auch ein Anachronismus? Die Literaturkritik hat sich ja gewandelt, will man diese Schärfe, diese Aggression im Verreißen wirklich noch – mir fällt jetzt auch das Bild ein auf dem "Spiegel", das Zerreißen, das öffentliche Zerreißen von Grassens "Weites Feld" damals –, ist das nicht vorbei?
Naumann: Ja, offenkundig ist es vorbei. Die zeitgenössische Literaturkritik, die neue Generation, man muss fast schon sagen die zweite Generation nach Reich-Ranicki, ist ausdifferenzierter, hoch gebildet, gewissermaßen mit Derrida und anderen französischen, theoretischen Ansätzen ins Leben entlassen worden. Wenn ich heute Literaturkritiken lese, die doch wesentlich ausgeprägter und differenzierter sind als die der Vergangenheit, dann hab ich allerdings aber oft genug den Eindruck, ich bin in einem Seminar gelandet. Das entspricht dann oft genug auch der Literatur, die besprochen wird. Also in anderen Worten: Diese Tradition, die Alfred-Kerr-geprägte, Heine-geprägte Tradition des emphatischen Verrisses, der Liebeserklärungen auf Zeitungsspalten an einen Autor oder eine Autorin, diese Zeiten sind vorbei. Ich vermisse sie allerdings und muss sagen, bei aller Feinheit und Differenziertheit, juwelierhaften Präzision der deutschen zeitgenössischen Literaturkritik, vermisse ich dann doch hin und wieder einmal den Hammerschlag auf dem Amboss der Kritik.
Scholl: In memoriam Marcel Reich-Ranicki. Gestern ist der Kritiker im Alter von 93 Jahren gestorben. Bei uns war Michael Naumann, der Verleger, der Autor, der frühere Kulturstaatsminister, heute Publizist. Schönen Dank Ihnen für das Gespräch!
Naumann: Gerne!
Scholl: Und über Marcel Reich-Ranickis Rolle als Literaturkritiker und welche Epoche mit ihm zu Ende geht, das vertiefen wir in unserem Gespräch mit Matthias Weichel als MP3-Audio "Feuilleton-Pressegespräch" mit Matthias Weichel (MP3-Audio), dem Leiter der Literaturzeitschrift "Sinn und Form", und mit dieser hatte Marcel Reich-Ranicki eine ganz innige Beziehung.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.