Jörg Himmelreich ist Jurist und Historiker. Als Professeur Affilié lehrt er an der der École Supérieure de Commerce à Paris (ESCP), Campus Berlin und publiziert regelmäßig zu kulturgeschichtlichen und außenpolitischen Themen. Zuvor war er Mitglied des Planungsstabes des Auswärtigen Amtes, Berlin, und Fellow des German Marshall Funds der USA in Washington und Berlin.
Pazifismus vs. Zeitenwende
Mehr als 300.000 Menschen zählte die Friedensdemonstration im Hofgarten in Bonn am 10.10.1981: Die Friedensbewegung muss endlich aufwachen, fordert Jörg Himmelreich. © picture alliance / Klaus Rose
Warum „Nie wieder Krieg“ von Anfang an ein Irrweg war
Viel ist von der Zeitenwende die Rede. Aber hat militärpolitisches Umdenken wirklich in allen Köpfen stattgefunden? Nein, sagt der Historiker Jörg Himmelreich. Sowohl bei den Grünen als auch in der SPD hingen viele noch an pazifistischen Illusionen.
Welch tiefe Zäsur die russische Invasion in der Ukraine für die deutsche Geschichte nach 1945 bedeutet, dämmert erst allmählich. Wie ein Kartenhaus zerfallen scheinbar unumstößliche Säulen des bundesdeutschen politischen Selbstverständnisses – und dies in historischen Sekunden.
Eine solche Säule, die gerade zusammenstürzt, ist das aus der deutschen Friedensbewegung stammende Dogma des: „Nie wieder Krieg“.
Tiefe Abscheu vor allem Militärischen
Geprägt von den Katastrophen des Zweiten Weltkriegs hatte sich eine tiefe Abscheu vor allem Militärischen in das Bewusstsein der westdeutschen Nachkriegsgenerationen eingegraben. Politisch manifestierte sie sich in der Bewegung "Kampf dem Atomtod“ der 50er-Jahre, später in den Ostermärschen und den großen Friedensdemonstrationen der 80er-Jahre.
Bei den Grünen gehörte die Abscheu vor dem Militärischen zum Gründungsmythos, und in der SPD wurde sie zum scheinbar unverzichtbaren Leitbild, über das damals sogar ihr Kanzler Helmut Schmidt als Verfechter des NATO-Doppelbeschlusses stürzte.
Jetzt hat Bundeskanzler Olaf Scholz zwar mutig die Zeitenwende erklärt, er tastet sich aber – Helmut Schmidts Sturz in bester Erinnerung – nur sehr vorsichtig an deren Umsetzung heran.
Viel klarer in ihrer Haltung sind da die Grünen-Minister Annalena Baerbock und Robert Habeck. Aber ihre Position ist innerparteilich umstritten. Nicht umsonst wurde der vom Friedensapostel zum Kalten Krieger gewandelte Anton Hofreiter von der Partei nicht für den Bahn-Aufsichtsrat benannt. Die Träume von „Nie wieder Krieg“ und „Frieden schaffen ohne Waffen“ sind noch lange nicht ausgeträumt.
Dabei sollte spätestens jetzt klar sein, dass sie von Anfang an eine Illusion und ein Irrweg waren.
Deutscher Pazifismus zulasten Dritter
Denn so erstrebenswert der Frieden in der Staatengemeinschaft auch ist: Mit dem Verzicht auf militärische Verteidigungsfähigkeit wird er gerade nicht erreicht. Die weltpolitische Ordnung ist durch Anarchie gekennzeichnet.
Kein Völkerrecht und keine internationalen Institutionen alleine beseitigen sie. Sondern es bedarf der Ausübung von Macht, um diese Asymmetrie der Staatenordnung durch ein Gleichgewicht der Kräfte zu bändigen. Allen anderen Staaten in Europa, insbesondere in Osteuropa im Schatten Russlands, sind diese Grundregeln internationaler Machtpolitik bewusst. Die militärische Verteidigungsfähigkeit ist dort überall ein hohes Ziel der nationalen Politik.
Der deutsche Verzicht darauf, mit dem Verweis auf die eigene Geschichte, steht im Ausland im Verdacht, andere die Kohlen aus dem Feuer holen zu lassen, um sich selbst nicht zu verbrennen. Dieser ausgeprägte deutsche Pazifismus zulasten Dritter entspringt so einem deutschen Nationalismus, den er eigentlich zu überwinden vorgab.
Die Friedensbewegung hat im Schatten des nuklearen Schutzes der USA permanent und im Geiste überlegener Moral jene Grundregeln der internationalen Machtkonkurrenz sträflichst ignoriert.
Folgenschwere Politik der Ära Merkel
Keine Bundesregierung traute sich jedoch, die militärische Sicherheit der Bundesrepublik als wichtige Aufgabe der Politik zu thematisieren, geschweige denn herzustellen.
Ohne die Appeasement-Politik der Regierungen Merkel hätte Putin niemals gewagt, in die Ukraine einzumarschieren. Und kann man wirklich angesichts der furchtbaren Kriegsgräuel in Butscha und anderswo in der Ukraine, sich heute noch alleine auf ein vermeintlich moralisch überlegenes „Nie wieder Krieg“ beschränken? Muss nicht auch Deutschland heute alles tun, um die Ukraine zu befähigen, den russischen Angriff militärisch abzuwehren?
Der von den USA behütete, jahrzehntelange sicherheitspolitische Dornröschenschlaf der deutschen Friedensbewegung muss daher endlich einem endgültigen Erwachen weichen, so bitter es ist.