Zeiterfahrung im Kino

Die Taktgeberin des Films

Ellar Coltrane in einer Szene aus dem Film "Boyhood".
Der Film "Boyhood" wurde in einem Zeitraum von zwölf Jahren realisiert: Entsprechend altert der Hauptdarsteller. © picture alliance / dpa
Von Hartwig Tegeler |
Vor knapp 100 Jahren waren Kinozuschauer noch irritiert, wenn Filme keine klare zeitliche Abfolge aufwiesen. Das Spielen mit zeitlichen Elementen - von Zeitlupen bis Zeitraffern - ist heute fester Bestandteil der Film- und Schnittkunst. Hier eine kleine Kulturgeschichte.
Am Anfang, die Genesis. Die des Kinos. 1896, ein Zug fährt in den Bahnhof. Auf der Leinwand. Die Fahrgäste steigen mit ihrem Gepäck aus. In Echtzeit. Kein Schnitt, kein Zeitraffer, keine Zeitlupe, kein Rückwärtslauf, kein Standbild: Der erste Film der Filmgeschichte war wie dokumentarische Aufnahme des Alltags.
"Moment mal. Stopp, warten Sie mal kurz!"
Die Filmzeit erscheint uns als verdichtete, als gedehnte Zeit. Strukturprinzip filmischer Erzählungen.
"Was bleibt uns noch als Zeit, Nancy?"
Zeit, die unsere Wahrnehmung der Geschichten, die uns da auf der Leinwand präsentiert werden, entscheidend beeinflussen.
Zeitlupen von Massakern sind mittlerweile selbstverständlich
Zeit, die außerhalb der Linearität lief, irritierte die Kinogänger am Anfang noch. Doch der Gewöhnungsprozess an filmische Zeiterfahrung dauerte nur kurz: Schon 1925, also nur ein gutes Vierteljahrhundert nach der Einfahrt des Zuges, den die Gebrüder Lumière drehten, zeigte sich Sergei Eisenstein als früher Meister auch der Montage. Der der Zeit und der des Raumes. Beides hängt im Kino unauflösbar zusammen: Wenn in "Panzerkreuzer Potemkin" die zaristische Armee auf der Hafentreppe von Odessa auf die Menschenmenge schießt, Angeschossene, Erschossene zusammenbrechen, so ist dies ein fulminant rhythmisierter Fluss der Bilder, in der sich Zeit verdichtet, dann wieder dehnt, und manchmal glaubt man schon die Zeitlupe zu sehen, wie später, vierzig Jahre später, Ende der 1960er-Jahre, bei den Western von Sam Peckinpah, wenn das Töten zerdehnt ist in nahezu unerträglicher Intensität. Das erste Mal die Zeitlupe des Massakers am Ende von "The Wild Bunch" zu sehen, ein Schock. Für einen Moment. Inzwischen selbstverständlich auch bei einem handelsüblichen "Tatort".
Filmzeit. Verdichtet. Gedehnt. Auch Zeit, die anhält. Um die Szene mit Bedeutung aufzuladen. In Darren Aranofskis "Noah"-Film verdichtet sich im eiligen Fluss der Bilder des Zeitraffers die Schöpfungsgeschichte: Schlange, Apfel, Sündenfall, Kain erschlägt Abel, Turmbau zu Babel. Und dann - langsaaaaam (!). Jetzt sind wir angekommen, Prolog hinter uns, jetzt erzählen von Noah, der Sintflut und der Arche mit den Tieren, von jedem ein Paar.
"Als Zuflucht der Unschuldigen. Warum sind sie unschuldig? Weil sie immer noch so leben wie im Garten Eden."
Aber auch in diesem ruhiger, linear erzählten Teil der "Noah"-Geschichte gibt es natürlich (!) keine natürliche (!) Zeit, sondern sie ist die ganz eigene Zeit der Erzählung, mit ihren – je nach Film – eigenen Besonderheiten. Manipulierte, künstlich oder kunstvoll montierte Zeit. Mann steigt aus Auto. Schnitt auf den Klingelknopf. Schnitt auf die sich öffnende Tür. Dialog. Drei, vier Minuten Echtzeit in 15 Sekunden Filmzeit erzählt.
12 Jahre in 163 Minuten
Oder dieser klassische Zeitsprung in der Filmgeschichte, der auch ein grandioser Raumsprung ist, über Zeitalter hinweg: Der Vormensch in der Urzeit der afrikanischen Savanne wirft in Stanley Kubricks "2001: Odyssee im Weltraum" den Knochen in die Luft, und die Kreisbewegung des geworfenen Knochens geht über in die des Erdsatelliten, der sich ebenso dreht zu den Klängen von Johann Strauss´ Donauwalzer. Von der Urzeit in das Jahr 1999, Millionen von Jahren in einem Schnitt. Die Zeit gibt den Takt an im Film, wie immer sie auch getaktet war.
Richard Linklater hat mit seinem Film "Boyhood" eine neue Dimension des filmischen Erzählens betreten. Der Film erzählt 12 Jahre seiner Hauptfigur. Das wäre an sich nicht weiter erwähnenswert angesichts der Millionen von Jahren, die Stanley Kubrick einst in einen Schnitt durchschritt. Doch der Zeitraffer ist bei Richard Linklater nicht nur Grundkonstruktion der fiktiven filmischen Zeit, sondern auch die der Drehzeit.
2002 begann Linklater mit den Dreharbeiten zu seinem Film über die Kindheit. Bis 2013 begleitete er seine Hauptfigur, den sechsjährigen Mason, gespielt von einem Sechsjährigen, bei dessen Heranwachsen. Jedes Jahr drehte der Filmemacher eine Sequenz und montierte das 2013 zu einem knapp dreistündigen Film. 12 Jahre in 163 Minuten. Und wenn der Hauptdarsteller wie die Hauptfigur, am Anfang sechs, am Ende in der Realität wie im Film ein junger Mann geworden ist, dann hat sich für uns eine magische Dimension der Zeiterfahrung im Film geöffnet.
Im Rahmen der Berlinale feiert heute der mit mehr als acht Stunden längste Wettbewerbsfilm der Festivalgeschichte seine Premiere: der philippinische Regisseur Lav Diaz erzählt in "A Lullaby to the Sorrowful Mystery" vom Kampf seines Landes gegen die spanische Kolonialmacht Ende des 19. Jahrhunderts.
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