Zeitforscher: Politik muss Ressource "Zeit" stärker berücksichtigen

Ulrich Mückenberger im Gespräch mit Nana Brink |
Ob jemand Zeit hat, seinen Tagesablauf zu koordinieren, sei keine Naturgegebenheit, sondern eine soziale, sagt Ulrich Mückenberger, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik. Die Ressource "Zeit" müsse aktiv positiv gestaltet werden, ganz im Sinne der Bürger.
Nana Brink: Wir kennen sie alle, die Sprüche vor allen Dingen in diesen Tagen, am Ende des Jahres: Meine Güte, wie schnell ist die Zeit vergangen. Oder: Zeit ist Geld. Oder: Können wir die Zeit nicht mal anhalten? Poetisch gesprochen mit Goethe, der alten Fundgrube: "Wenn ich zum Augenblicke sage, verweile doch, du bist so schön." Wir wissen ja, was dann passiert ist: Der Teufel raubt Faust die Seele, weil er die Zeit anhalten will. Nun ist es in unserem Alltag ja gar nicht so leicht, mit der Zeit umzugehen – oder vielleicht doch? Am Telefon ist jetzt Professor Ulrich Mückenberger, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik. Einen schönen guten Morgen, Herr Mückenberger!

Ulrich Mückenberger: Guten Morgen, Frau Brink!

Brink: Ist mein Eindruck falsch, dass die Zeit gefühlt heute schneller vergeht als früher?

Mückenberger: Das ist so einfach nicht zu sagen, weil es natürlich ganz unterschiedliche Lebenslagen gibt in dieser Gesellschaft. Denken Sie mal an ältere Menschen, denken Sie mal an Arbeitslose oder so, da haben Sie ein ganz anderes Zeiterleben, während Sie wahrscheinlich jetzt vornehmlich denken an die Erwerbstätigen, die also sozusagen in einer High-Speed-Berufsrolle sind. Da hat sich das natürlich, der Arbeitsvollzug und der Alltag, ungeheuer beschleunigt.

Brink: Warum beschäftigt Sie das Thema Zeit so sehr?

Mückenberger: Also mir ist nicht so sehr das Problem der Beschleunigung ein Problem, sondern dass mehr und mehr sozusagen Aktivitätsbeschleunigung in alle Bereiche überschwappt. Das ist so ein Ding. Ein anderes Ding: Warum vergeht die Zeit im Alter schneller? Da hat Schopenhauer sich Gedanken drüber gemacht. Natürlich vergeht sie rein numerisch nicht schneller, aber wir haben offenbar ein begrenztes Erinnerungsvermögen und im Laufe des Lebens und des zunehmenden Alters wird es sozusagen immer schwieriger, mit derselben Intensität zu speichern, sich zu erinnern. Und das streicht man dann sozusagen aus der vergangenen Zeit, und die Zeit ist vergangen, ohne Spuren zu hinterlassen.

Brink: Nun sind Sie Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik, und das ist ein Begriff, der mir jetzt nicht sofort eingeleuchtet hat. Was ist Zeitpolitik?

Mückenberger: Also, Zeitpolitik – das ist natürlich ein Kunstwort, das gab es vor zehn Jahren noch nicht – bedeutet, dass Zeit, zumindest soziale Zeit, als eine gestaltbare verstanden wird. Also ob Sie Zeit haben, Ihren Tagesablauf zu koordinieren, ist nicht eine Naturgegebenheit, sondern eine soziale Gegebenheit, und da greifen ganz verschiedene soziale Faktoren ineinander: Transportmittel, Öffnungszeiten, Familienangehörige und so weiter. Und Zeitpolitik beginnt eigentlich mit der Aussage, dass Zeiten auch positiv gestaltbar sind, Alltagszeiten im Sinne der Nutzerinnen und Nutzer oder im Sinne der Bürgerinnen und Bürger gestaltbar sind.

Brink: Können Sie ein Beispiel nennen, damit wir uns das ganz praktisch vorstellen können? Wo würde das greifen?

Mückenberger: Also zum Beispiel, ob ein Bürgerservice-Zentrum, was die Funktion eines Einwohnermeldeamtes hat, ob das am Samstag Vormittag auf ist - die ganz große Ausnahme in Deutschland -, würde allerdings den Alltag, sowohl den wöchentlichen wie den samstäglichen Alltag vieler Menschen entspannen. Und wir haben so ein Realexperiment in Bremen gemacht bei dem Bürgerservice-Zentrum, und es führt zu hohen – wie wir gerade ausgewertet haben –, zu hohen Lebensqualitätsgewinnen nicht nur der Beschäftigten, sondern vor allen Dingen der NutzerInnen.

Brink: Das heißt, es ist eigentlich eine lokale Sache, wenn ich Sie richtig verstanden habe?

Mückenberger: Also, lokal deshalb, weil die meisten dieser alltagsbedeutsamen Vorkehrungen wie Verkehr, Öffnungszeiten, Dienstleistungen, die zur Verfügung stehen, Kindertagesstätten und so weiter, weil der Großteil dieser alltagsbezogenen Vorkehrungen auf lokaler Ebene bereitgestellt werden und erfahren werden. Deshalb hat einen gewissen Schwerpunkt lokale Zeitpolitik, aber Zeitpolitik ist keineswegs nur lokal. Also es gibt große EDV-Prozesse, die laufen ja flächenübergreifend, aber alle schlagen sich lokal nieder und werden dort unter Umständen als Zeitchance oder als Zeitrisiko erfahren.

Brink: Nun könnte ich mir vorstellen, als Sie angefangen haben, dann hat man wahrscheinlich, gab es ein großes Fragezeichen, als man hörte, Deutsche Gesellschaft für Zeitpolitik, was wollen die eigentlich? Nun haben Sie uns praktische Beispiele gegeben – wie sehen die Reaktionen heute aus, interessiert das auch die Leute lokal?

Mückenberger: Das ist ganz unterschiedlich. Die Zeitpolitik ist in der Konstruktion eine sehr einleuchtende Sache und in der Umsetzung sehr schwierige Sache. Da müssen plötzlich ganz unterschiedliche Akteure – private, öffentliche Akteure unterschiedliche Ressource der Gemeindeverwaltung – zusammenarbeiten, um den Alltag von Menschen zu verbessern. Und davor schrecken viele zurück. Ich erlebe das nicht als ein graduelles Vordringen der Zeitpolitik, sondern als ein Auf und Ab. Also zum Beispiel "FAZ", erste Seite 2006, stand zum ersten Mal das Wort Zeitpolitik, aus dem Munde von Frau von der Leyen, als sie den siebten Familienbericht eingeführt hat. Da war plötzlich klar geworden, das Familienleben besteht nicht nur aus Geld und besteht nicht nur aus Menschen, sondern besteht aus Zeitstrukturen innerhalb der Familie wie innerhalb des örtlichen Gemeinwesens, von dem die Lebensqualität der Familie abhängt.

Brink: Es geht ja auch europaweit schon, es gibt, wenn ich richtig informiert wäre, einen Grundsatzbeschluss für lokale Zeitpolitik.

Mückenberger: Ja, also das ist etwas, was mir große Freude gemacht hat. Am 28. Oktober diesen Jahres hat der Kongress der Regionen und Gemeinden des Europarats diesen Grundsatzbeschluss gefasst. Und da steht nicht nur drin, dass man die Sensibilität für Zeitfragen erhöhen soll, sondern auch, dass Zeitbüros eingerichtet werden sollen, dass zeitliche Koordinierungsmaßnahmen und Best-Practice-Austausch zwischen den Ländern des Europarats gemacht werden sollen. Und es steckt ausdrücklich eine Empfehlung da drin an das Ministerkomitee in den 47 Mitgliedsstaaten, das zu realisieren. Das kriegt Herr Westerwelle auf den Tisch.

Brink: Also, um Ihnen am letzten Tage des Jahres nicht weiterhin die Zeit zu stehlen, vielleicht noch ein Gedanke zum Jahresabschluss: "Denke immer daran, dass es nur eine wichtige Zeit gibt: Heute! Hier! Jetzt!" Das ist ein Zitat von Lew Tolstoi, dem russischen Dichter. Wäre das eine gute Zeitmaxime?

Mückenberger: Das Jetzt ist das Wichtigste und einzig Erlebbare an Zeit, Zukunft ist noch nicht, Vergangenheit ist nicht mehr und das Jetzt ist die Brücke dazu. Insofern, ich kannte das Zitat von Tolstoi nicht, aber ich finde es wunderbar.

Brink: Professor Ulrich Mückenberger, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik. Schönen Dank für das Gespräch!

Mückenberger: Ja, danke Ihnen auch, Frau Brink!