Renaissance der kleinen Form
Im zeitgenössischen Tanz arbeiten zahlreiche Choreografen mit einer geringen Tänzerzahl und wenig technischem Aufwand. Ist diese Tendenz das Produkt ökonomischer Zwänge - oder Spiegel gesellschaftlicher Veränderungen?
Die Bühne ist voll: mehr als 50 Sänger und Musiker sowie zehn Tänzer bevölkern zugleich die Szenerie des Tanzstücks "C(h)ours" des belgischen Erfolgschoreografen Alain Platel. Doch statt Einheitlichkeit zu erzeugen, lässt Platel hier höchst unterschiedliche Individuen aufeinander treffen.
Jeder zittert, kämpft und rumort für sich alleine, selbst, wenn die Tänzer dieselben Bewegungssequenzen ausführen. Im Gegensatz zum klassischen Ballett kennt der zeitgenössische Tanz kaum den Einsatz großer, konformer Gruppen.
Alain Platel, der heute immer wieder große Bühnen und Apparate bedient, hat mit kleinen Produktionen angefangen:
"Wenn man zu choreografieren beginnt, muss man sich erst einmal selbst definieren und bezieht sich in seiner Arbeit auf ganz persönliche, individuelle, intime Zustände oder Themen. Das ist vielleicht ein Grund, warum die Arbeiten junger Choreografen oft so 'klein' erscheinen."
"Eine Explosion professioneller Tanzproduktionen"
Zunehmend aber produzieren nicht nur die jungen Künstler in bescheidenem Maßstab; auch in den Bühnenstücken erfahrener Choreografen finden sich oft nicht mehr als vier, fünf Tänzer. Um mehr Leute zu engagieren, reichen die meisten Produktionsgelder nicht aus. Doch für Virve Sutinen, neue Leiterin des kommenden Tanzfestivals "Tanz im August", hängen die ökonomischen Schwierigkeiten auch mit der zunehmenden Professionalisierung der Tanszene zusammen:
"Vor 20 Jahren gab es nur einen Bruchteil der Gruppen, die heute um die halbe Welt touren. (...) Man kann fast sagen, dass es eine Explosion professioneller Tanzproduktionen gegeben hat. Und nicht alle Bedürfnisse, die dadurch entstanden sind, können auch gedeckt werden."
Dass immer mehr Tänzer auch selbst choreografieren, also die Rollen wechseln wollen, ist für Alain Platel auch Resultat des Umgangs mit und der Ausbildung von Tänzern:
"Seit vielen Jahren fordern wir unsere Tänzer dazu auf, nicht nur eine gute Tanztechnik zu entwickeln, sondern sich auch ganz persönlich in den künstlerischen Prozess einzubringen. In meinem eigenen Tanzkollektiv 'La Ballet c de la b' gab es unzählige Tänzer, die nicht mehr dahin zurück wollten, nur Ausführende zu sein. Stattdessen wollten sie eigene Stücke machen, selbst kreativ entscheiden und etwas ganz Persönliches ausdrücken."
Der Individualität Ausdruck verleihen
Der eigenen Individualität Ausdruck verleihen – diese Verfahrensweise hat seit einigen Jahrzehnten im zeitgenössischen Tanz Konjunktur. Das hat ihn so populär gemacht, ihm zugleich aber auch gewisse Beschränkungen auferlegt. Colette Sadler, zeitgenössische Choreografin, sieht eine Ursache dafür in der eigenen Ausbildung:
"Ich habe selbst lange als zeitgenössische Tänzerin gearbeitet. Und als ich begann, zu choreografieren, habe ich alles aus meinem eigenen Körper, aus der eigenen Subjektivität entwickelt und auf andere Körper, andere Individuen übertragen. (....) Wenn man aber aus der Ballettwelt kommt, denkt man wahrscheinlich ganz anders über Choreografie. Dann geht es viel eher darum, eine choreografische Struktur für ein Corps de Ballett zu entwickeln, also eine große Gruppe von Tänzern. Dieses Verfahren hat dagegen im zeitgenössischen Tanz fast gar keine Tradition."
Festivalleiterin Virve Sutinen sieht daneben noch andere Gründe für die Tendenz zu kleineren, individuelleren Formaten. Als ehemalige Leiterin des "danshus" in Stockholm, einem Theater mit großer Bühne, hat sie im Umgang mit zeitgenössischen Tänzern und Choreographen überraschende Erfahrungen gemacht:
"Mein Eindruck war: viele Künstler hatten Angst, die große Bühne zu benutzen. Sie haben sich im Studio viel wohler gefühlt. Dort gab es eine Menge Gespräche über den 'künstlerischen Prozess' und von niemandem wurde erwartet, dass er ein fertiges Produkt abliefert. Die große Bühne schien dafür zu stehen: für das Produkt! Und genau das war unter den Künstlern nicht erwünscht; es schien ihnen sogar politisch inkorrekt."
Finanzielle und mentale Unterstützung
An dieser Haltung scheint sich derzeit etwas zu verändern; der vermeintliche Gegensatz: "Repräsentation auf großer Bühne" versus "Work-in-progress im Studio" wird nicht mehr so streng gesehen oder gar politisch-ideogisch aufgeladen. Immer mehr Künstler würden ihre Fähigkeiten gerne in großen Räumen ausprobieren und für größere Gruppen choreografieren. Doch dafür, gibt Alain Platel zu bedenken, sei eine gewisse Kontinuität notwendig:
"Wenn ich die Situation heute mit der von früher vergleiche, muss ich feststellen, dass ich damals die Möglichkeit bekommen habe, mich sehr langsam zu entwickeln und nach und nach meinen eigenen Stil zu finden. (...) Heute ist der Druck für die jungen Künstler, etwas Besonderes oder Intelligentes zu produzieren, viel größer. (..) Viele junge Tänzer und Choreographen können sich zwar ausprobieren, doch dann fehlen die Möglichkeiten, mit der begonnenen Arbeit fortzufahren und sie zu vertiefen."
Ein großes, aufwändiges, "fertiges" Stück zu produzieren und auf eine große Bühne zu bringen, bedeutet, es zur Disposition und sich selbst der Kritik zu stellen. Und dafür sind – damals wie heute – vor allem zwei Dinge nötig: finanzielle und mentale Unterstützung.