"Zeitgenössisches Theater in China"

Wie die Kunst auf den Kopf gestellt wurde

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Ein "Almanach der Zeiten" über die chinesische Theaterszene. © Foto: Imago / Xinhua, Coverabbildung: Alexander-Verlag
Von Michael Laages |
Durch Maos Kulturrevolution wurde auch das Theater in China grundlegend verändert. Wie dieser Umbruch bis heute nachwirkt - davon handelt "Zeitgenössisches Theater in China". Ein Blick in eine "fremde, abenteurreiche" Welt, meint Michael Laages.
Wann hat wohl jemals sonst irgendwo die politische Richtungsentscheidung der Regierenden eines großen Landes speziell das Leben der Kreativen und der Kulturschaffenden derart grundsätzlich und fundamental verändert, wie das in Chinas "Kulturrevolution" geschah… Bis in den Lebens- und Arbeitsalltag von heute lebenden und arbeitenden Tänzerinnen und Tänzern, Sängerinnen und Sängern, Schauspielerinnen und Schauspielern in China wirkt dieser Umbruch nach.

Wie trägt man auf der Bühne einen Gülle-Eimer?

Es ging ja nicht nur um Ideologie – alle erlernten Künste, alle Handwerklichkeiten in den Berufen wurden umgestülpt, auf den Kopf gestellt. Wang Jizhu erzählt davon, auf Seite 156 des überaus materialreichen Bandes über "Zeitgenössisches Theater in China".
Geboren bei Kriegsende 1945, ist die heutige Professorin in Shanghai mit Mitte 20 bereits eine erfolgreiche Jingjiu-Darstellerin in den bis zu Beginn der 60er-Jahre unumstrittenen sogenannten "Peking-Opern", streng ritualisierten Mischformen aller darstellerischen Künste.
1964 ächtet Mao Zedong die klassischen Künste in der Kampagne gegen "Die vier Alten", Maos Frau Jiang Quing (selbst Schauspielerin) entwirft Modellopern, die nun landauf-landab gespielt werden müssen. Wang Jizhu lernt um – von Bauern lässt sie sich zeigen, wie sie Eimer mit Exkrementen drin zu tragen hat, die (in einer der neuen Geschichten) eine Frau zur Düngung des eigenen Gartens abzweigt, bevor sie (natürlich) lernt, dass der Mist aufs kommunale Feld gehört. Wie ist – auf der Bühne - ein Eimer zu tragen, in dem nichts als stinkende Gülle schwappt?

Definition neuer Theater-Tendenzen

Die spätere Frau Professor hat die traditionellen Fertigkeiten ganz privat konserviert; und manche der jungen Künstlerinnen und Künstler, von denen der voluminöse Band auf über 400 Seiten berichtet (und die darin selber von den neuen Positionen des Theaters in China erzählen), haben genau so, in der sehr familiären Überlieferung, die Ursprünge kennenlernen können, aus denen sich letztlich auch der Aufbruch in jüngerer Zeit speist.
Für Leserin und Leser hierzulande mag besonders faszinierend die Macht der Formen wirken, beim historischen Gülle-Eimer wie in den Profil-Erkundungen unter jüngeren Talenten. Anders als im europäischen Theater, das viel deutlicher (und auch heute noch, Regietheater hin oder her) den Text, also Autorin und Autor priorisiert bei der Definition neuer Theater-Tendenzen, geht es im chinesischen Theater auf beinahe allen Ebenen zunächst mal um die formale Behauptung.
Alle Gäste aus der "Alten Welt", wie etwa Jürgen Flimm schon vor über 30 Jahren oder in jüngerer Zeit die Dramatikerin und Regisseurin Gesine Danckwart, haben entdeckt, dass es eben nicht genügt, einen (zum Beispiel) deutschen Text einfach nur so für chinesisches Publikum aufzubereiten - wie interessiert auch immer die Kundschaft wie die Fachleute über die Generationen und Epochen hinweg immer waren und sind an Bertolt Brecht, aber auch an Arthur Müller oder Friedrich Dürrenmatt. Flimms Arbeit an einem chinesischen "Woyzeck" von Büchner gehört zu den besonders aussagekräftigen Fallstudien.

Das staatliche Kulturbüro bestimmt die Regeln

Der internationale Austausch künstlerischer Visionen kommt jetzt erst richtig in Gang - auch dank der Herausgeber: Regisseurin Cao Kefei, Dramaturg und Autor Christoph Lepschy, Übersetzerin Sabine Heymann. Erst seit kurzer Zeit sind (veröffentlicht von "Theater der Zeit") chinesische Theatertexte zugänglich.
Mittlerweile allerdings streiten die aktuell bedeutsamen Gruppen der chinesischen Theaterszene, speziell die experimentellen wie das "Living Dance Studio", das "Paper Tiger Theatre" oder die "Grasbühne", schon wieder an einer ganz anderen Front – offiziell nämlich ist das Theater in China so gründlich wie wohl nirgends sonst auf der Welt durchkommerzialisiert.
Was einst Maos Rote Garden an künstlerischen Direktiven ausgaben, lässt sich jetzt in den Produktionsregeln des allgewaltigen staatlichen Kulturbüros finden. Wieder ereignet sich freies, experimentelles, ästhetisch herausforderndes Theater quasi im Untergrund. Und da scheint es auch im Nachhinein logisch, dass sehr viele chinesische Experimente jenseits des Profitums und in Zusammenarbeit mit normalen Bürgern entstanden.

Viele unvertraute Begriffe fordern den Leser heraus

Das Buch selber ist übrigens auch eine Herausforderung. Hier heißt ja niemand Müller oder Miller, Bernhard oder Brecht; das Lesepublikum muss sich einrichten auf unerhört viele fremde, unvertraute Begriffe - schon in der historischen Unterscheidung der Traditionen von allgegenwärtigem Musik- und marginalem Sprechtheater. Das Glossar der Fachbegriffe ist gewaltig, und es tut sehr gut, dass gegen Ende zum einen in Kurz-Porträts die wichtigsten aktuellen Theater-Profile im Schnelldurchlauf porträtiert werden und zum anderen einige deutsche China-Vertraute zu Wort kommen – eben Gesine Danckwart, Ulrike Syha oder Gesine Schmidt. Sie helfen uns hinein in diese fremde, abenteuerreiche Welt.

Cao Kefei, Sabine Heymann, Christoph Lepschy (Hgs.): "Zeitgenössisches Theater in China"
Alexander-Verlag, Berlin 2017
440 Seiten, 38 Euro

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