Zeitgenosse sein auf eigene Gefahr

Von Sieglinde Geisel · 12.08.2013
Es ist nicht lange her, da gab die Wochenzeitung "Die ZEIT" 2009 ein Sonderheft zu 50 Deutschen heraus, die Vorbildcharakter beanspruchen durften - aber über Willy Brandt und Romy Schneider kam die Liste nicht hinaus. Warum eigentlich nicht? Brauchen wir heute etwa keine Vorbilder mehr?
Seit der Suhrkamp Verlag in Gefahr ist, erinnern wir uns an seine Bedeutung. Er war etwas, was es in unserer Gesellschaft nicht mehr gibt: ein Zentralorgan des aufgeklärten Bewusstseins. Suhrkamp verlegte, was man als Zeitgenosse gelesen haben musste, wenn man mitreden wollte.

Man konnte sich diesem Verlag anvertrauen mit seinem Gespür für die ordnende Kraft von Reihen: Nicht wenige Leser hatten die edition suhrkamp quasi abonniert und lasen jeden der preiswerten bunten Bände gleich bei Erscheinen – der gelegentliche Ärger über die Auswahl war dabei nur Ausdruck der Bindung.

Diese Funktion einer Instanz für Bewusstseinsbildung hat der Suhrkamp Verlag unwiederbringlich eingebüßt. Doch das liegt nicht an Suhrkamp – sonst hätte längst ein anderer Verlag diese Rolle übernommen. Es liegt daran, dass in unserer Gesellschaft Instanzen passé sind, nicht nur im Verlagswesen, das unser geistiges Leben verwaltet.

Alfred Brendel war der letzte unangefochtene Superstar unter den Pianisten. Zwar bleiben uns Andras Schiff und Maurizio Pollini, aber die sind nicht viel jünger als Brendel. Dabei fehlt es nicht an Pianisten, die das Zeug dazu hätten, im Gegenteil – doch können sie sich nicht mehr etablieren.

Früher hatte man es unwiderruflich "geschafft", wenn man mit 50 anerkannt war in seinem Fach, sei es als Musiker, als Komponist oder als Schriftsteller. Heute erreicht dieses Dienstalter niemand mehr.

Denn unsere Gesellschaft lässt keine Überlebensgröße mehr zu. Zu Männern wie Max Frisch, Heinrich Böll oder Heiner Müller blickte man auf. Sie galten, jeder in seiner Weise, als Gewissen der Nation. Doch dieses Modell hat ausgedient, deshalb finden sie unter den heutigen Autoren genauso wenig Nachfolger wie Alfred Brendel unter den Pianisten.

Wer von den Großen noch lebt, wie Grass und Walser, ist in der öffentlichen Wahrnehmung verblasst, ebenso Alice Schwarzer, übrigens eine der seltenen Frauen, die "zum Begriff" wurden.

Wer wäre die Hannah Arendt von heute, denkt man unwillkürlich beim Anschauen des Fernsehgesprächs, das Günter Gaus 1964 mit ihr geführt hat: ihre überlegene Gelassenheit, ihre entspannte und gerade deshalb durch nichts zu erschütternde Konzentration, ein unwiderlegbarer Maßstab für Denken und Haltung.

Günter Gaus seinerseits hatte das Interviewen von Instanzen zur Instanz gemacht: Vierzig Jahre Fernsehgespräche – für die Nachwelt ein Kommentar zum Zeitgeschehen, geordnet nach den Persönlichkeiten, die dieses prägten. Auch Gaus hat unter den Talkmastern von heute keine Erben – und gäbe es einen oder eine, dürfte es ihm oder ihr schwer fallen zu entscheiden, wer heute so wichtig ist, dass er uns auch morgen noch interessiert.

Wir haben ein Misstrauen entwickelt gegenüber Größe. Wir sind aus dem Alter raus, in dem man Autoritäten braucht. Zum Gespräch über unsere Zeit ist jeder eingeladen – eine intellektuelle Demokratie des Mitredens, die ihren Ausdruck in Wikipedia findet, dem anonymen Zentralorgan des Internets. Niemand vermisst Päpste wie Reich-Ranicki. Und doch fehlt uns etwas.

Wir sind eine Gesellschaft ohne Maßstäbe, ohne Orientierung, und, man wagt es kaum zu sagen, ohne Vorbilder. Diese können eine Bedrohung sein für die Demokratie, doch ihr Fehlen ist es ebenso, denn durch ihre Gravitationskraft stiften sie Gemeinschaft. Die politische Gleichgültigkeit, die wir so oft beklagen und das Heimweh nach der Suhrkamp-Kultur sind Ausdruck einer neuen Einsamkeit: Wer heute Zeitgenosse sein will, tut es ganz auf eigene Gefahr.


Sieglinde Geisel, 1965 im schweizerischen Rüti geboren, studierte in Zürich Germanistik und Theologie. Als Journalistin zog sie 1988 nach Berlin-Kreuzberg. Nach dem Mauerfall schrieb sie Porträts über die Metropolen Ostmitteleuropas und lebte vorübergehend in Lublin (Polen). Für die Neue Zürcher Zeitung war sie von 1994 bis 1998 Kulturkorrespondentin in New York, seit 1999 ist sie es in Berlin. 2008 erschien ihr Buch "Irrfahrer und Weltenbummler. Wie das Reisen uns verändert2, 2010 der Band "Nur im Weltall ist es wirklich still. Vom Lärm und der Sehnsucht nach Stille".
Sieglinde Geisel, freie Journalistin
Sieglinde Geisel© privat