Wie Deutschland friedlich wurde
Wie fand die deutsche Zivilgesellschaft nach den Gewalterfahrungen im Zweiten Weltkrieg zu einer friedlichen Grundhaltung? Das haben Historiker in Schule, Gefängnissen oder der Fußballfankultur erforscht. Doch aktuell ändere sich das Klima wieder.
Friedensdemo im Bonner Hofgarten im Oktober 1981. Hunderttausende sind gekommen, friedlich demonstrieren sie gegen das Hochrüsten in Ost und West und die Stationierung von neuen Mittelstreckenraketen in der Bundesrepublik. Es ist die ganz große Erfolgserzählung der Westdeutschen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Wie ein Land, das zwei Weltkriege geführt hat und mit mörderischer Gewalt gegen Millionen von Menschen in ganz Europa vorgegangen ist, sich von der Gewalt abwendet und zu einer vergleichsweise pazifistischen Gesellschaft wird, die Gewalt in allen ihren Bereichen ablehnt.
"Insgesamt, das war auch für uns so überraschend, weiß man sozusagen über diese Nachwirkungen dieser wirklich extremen Gewalterfahrungen des 2. Weltkriegs und der NS-Diktatur sehr wenig."
Sagt der Historiker Winfried Süß vom Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam.
Während die Gewalttaten der NS-Zeit gut erforscht seien, wisse man nur wenig über den Weg in die zivile Nachkriegsgesellschaft. Die Veränderungen bezeichnet Süß als Achsendrehungen.
"Es sind Achsendrehungen, die zum Teil nicht so ganz freiwillig passiert sind, da spielen Vorgaben der Alliierten eine große Rolle. Also wenn man zum Beispiel an die Außen- und Sicherheitspolitik denkt: Die Verwandlung der auf einen aktiven Krieg hin orientierten deutschen Wehrmacht in eine Bündnisarmee par excellence, wie es die Bundeswehr ist, ohne eigenen Generalstab, da war die Starthilfe der Alliierten am Anfang sehr förderlich."
Traditionen der Gewalt
Und abseits der Einflussnahme der Alliierten? Die Antworten sind komplex, widersprüchlich – je nach Gesellschaftsbereich unterschiedlich. Süß und seine Kollegen Thomas Schaarschmidt und Peter Ulrich Weiß dokumentieren sie in einem Themenheft der Zeitschrift Zeithistorische Forschungen. Es heißt: "Gewaltabkehr als gesellschaftliches Projekt in der Bundesrepublik Deutschland". Thomas Schaarschmidt:
"Die Perspektive ist zunächst mal sehr ungewöhnlich: Wenn wir auf Gewalt schauen und Gewaltforschung, fragen wir erst einmal nach Phänomenen der Gewalt, versuchen sie zu beschreiben, zu analysieren, nach Ursachen zu fragen. Uns schien es jetzt wichtig, die Perspektive zu drehen – auf Gewaltabkehr zu schauen."
Und damit die "Normalität", das eher Unspektakuläre, in den Mittelpunkt zu stellen und nach Akteurinnen und Akteuren und Methoden von Gewaltabkehr zu fragen. Die zehn Beiträge des Heftes befassen sich unter anderem mit der Gewaltabkehr in den Bereichen Schule, Heimerziehung, Gefängnissen – aber auch der Gewaltprävention bei Fußballveranstaltungen. Winfried Süß:
"Der Beitrag von Jutta Braun zeigt, dass es Traditionen der Gewalt, der Fangewalt im Fußball gibt, aber die in den 70er-Jahren deutlich weniger ausgeprägt waren, als wir das in den 80ern und vor allem seit der Nachwendezeit kennen, wo das auf ein völlig neues Niveau transformiert worden ist. Dieser Fußballbeitrag ist auch ein ganz gutes Beispiel dafür, dass man mal auslotet, was man sozusagen mit einer aktiven Politik – hier in diesem Fall des DFB – auch an Gegenprozessen einleiten kann. Das ist ja nun ganz interessant, dass der DFB relativ früh diese Probleme bemerkt hat und quasi um den Fußball familientauglich zu halten, eigentlich schon Ende der 80er Jahre zum Beispiel antirassistische Kampagnen unterstützt hat, die versucht haben, auf ausländerfeindliche Tendenzen im Fußball zu reagieren."
Wahrnehmung von Gewalt verändert sich
Wichtig ist den Historikern, auf Ambivalenzen, Widersprüche, Brüche in der Abkehr von Gewalt hinzuweisen. Und auch auf die Veränderung in der Wahrnehmung von Gewalt. Vergewaltigung in der Ehe gilt in Deutschland erst seit 1997 als strafbar, und das Züchtigungsrecht der Eltern gegenüber ihren Kindern wurde erst im Jahr 2000 endgültig gesetzlich verboten. Winfried Süß und Peter Ulrich Weiß:
"Unsere Sensibilität für Gewaltphänomene ist in der Gegenwart dramatisch größer als vor 20 Jahren, vor 40 Jahren, vor 60 Jahren."
"Ich denke auch, dass diese Zunahme des Reflexionsgrades, das ist ein Ausdruck auch für Zivilisierungsvorgänge innerhalb der Gesellschaft. Gleichwohl könnte man aber auch empirisch anders argumentieren: Je weiter wir den Gewaltbegriff fassen, desto mehr Gewalt haben wir in der Gesellschaft."
Auch die Zuordnung von Gewalt habe sich verändert. Verband man Gewalt bis in die 1990er-Jahre noch vor allem mit der politischen Linken – Stichwort Terror der RAF oder militante Proteste an der Startbahn West, verbinde man Gewalt heute eher der politischen Rechten – Stichwort: die Ausschreitungen gegen ein Asylbewerberheim in Rostock Lichtenhagen 1992 oder die NSU-Morde.
Rhetorische Aufrüstung in der heutigen Politik
Und der Ton ändere sich. Beispiel der AfD-Vorsitzende Alexander Gauland am Abend der Bundestagswahl über die künftige Bundesregierung:
"Wir werden sie jagen... Und wir werden uns unser Land und unser Volk zurückholen."
Thomas Schaarschmidt fürchtet, dass solche Töne auf der politischen Bühne dazu beitragen, dass wieder ein Klima der Gewalt entsteht.
"Von diesen rhetorischen Ausdrücken zur Gewalt zur praktischen Ausübung von Gewalt ist es erst einmal ein Schritt, aber auf der anderen Seite kann es natürlich zu einer Ermutigung führen. Gerade wenn das Umfeld den Eindruck erweckt, dass Gewalt durchaus akzeptiert wird, trägt auch diese verbale Gewalt zu Gewaltausbrüchen bei."
Winfried Süß sieht auch eine Zunahme von Gewaltphänomen in den letzten 10, 15 Jahren, etwa bei der Demonstrationsgewalt.
"Was wir diesen Sommer hatten in einigen ostdeutschen Ländern, das ist tatsächlich neu. Auch wenn es der Verfassungsschutz bestreitet, sozusagen Menschenjagden in deutschen Kleinstädten... das ist eine echt eine neue Nummer, auch dass die Polizei nicht sofort in der Lage ist, dagegen vorzugehen."
Allerdings zeigen Statistiken, dass unsere Gesellschaft derzeit weniger mit Gewaltdelikten zu tun hat denn je. Dennoch, sagen die Potsdamer Historiker, ist die Abwesenheit von Gewalt immer ein fragiler Zustand, der sich jederzeit ändern kann.