Zeitreise ins Alter Ego
Mit "Weitlings Sommerfrische" knüpft Sten Nadolny an frühere autobiografisch gefärbte Romane wie "Netzkarte" und "Er oder Ich" an. Diesmal verschlägt es seinen Helden auf eine unfreiwillige Reise in die eigene Jugend – ans Ende der 1950er-Jahre.
Es ist eine Zeitreise zurück in sein altes Ich, von der Sten Nadolny in seinem Roman erzählt. Wilhelm Weitling, der denselben Namen trägt wie jener kommunistische Schneidergeselle, der Karl Marx das Leben schwer machte, ist ein Richter a.D., der in Berlin lebt und 2010 die Sommerferien am Chiemsee verbringt - dort, wo er einst aufgewachsen ist.
Mit seinem Segelboot bricht der 68-Jährige eines Tages zu einem Törn auf. Er gerät in einen schweren Sturm, wird ordentlich durch die "Wellenmühle" gedreht, kentert, und kommt, angespült ans Ufer wieder zu Bewusstsein – aber nicht als der Alte, sondern zurückversetzt in das Jahr 1958, als er noch für jedermann Willy hieß, aufs Gymnasium in Traunstein ging und in unmittelbarer Nähe zum See in einem Holzhaus mit seinen Eltern und dem geliebten Großvater, einem Maler, lebte.
Auf seltsame Weise ist er verurteilt zu einem etwas anderen "Jugendarrest", zum "Zwangsaufenthalt" in der eigenen Vergangenheit. Er sieht sich seinen Ranzen zur Schule schleppen, vom Vater als "Häuptling Schwere Tasche" begrüßt, er beobachtet sich als schüchternen, zaghaften Jungen, den allerlei Versagensängste plagen und der sich brennend für die Geschichte der Seefahrt interessiert.
All das ist stark autobiografisch: Nadolnys Vater Burkhard war wie der "Wortlöwe" Hansjörg Weitling ein nicht allzu erfolgreicher Schriftsteller, mit dessen Tätigkeit die Bauern im Dorf nicht so recht etwas anzufangen wussten. Die Mutter Isabella (im Buch Desirée) landete in den späten 50er-Jahren einen Bestseller. Nadolnys Großvater Alexander Peltzer war tatsächlich ein Maler und lebte wie im Buch Fedor von Traumleben mit seinem Enkel unter einem Dach. Und mit 16 Jahren entdeckte Nadolny den britischen Konteradmiral und Polarforscher John Franklin. Ihm sollte er später seinen berühmtesten Roman 'Die Entdeckung der Langsamkeit' widmen ("Danach", schreibt Nadolny hier mit Blick auf seine eigene Rezeptionsgeschichte, "verlor er den Kontakt zum großen Publikum wieder, aber er blieb ein Name").
Man erfährt also viel über das Seelenleben Sten Nadolnys, wenn man Weitlings Geschichte liest. Eigene Erfahrungen literarisch zu verarbeiten, ist bei diesem Meister der Melancholie ein gängiges Prinzip seit seinem Debüt "Netzkarte". Die Methode von dessen Fortsetzung "Er oder Ich" (1999) – nämlich einer Figur ein kühl analysierendes Alter Ego zur Seite zu stellen, in diesem Fall einen "Sommerfrischler aus ferner Zukunft" - ist Nadolny-Lesern vertraut. Es gibt auch in diesem kurzen Buch ("bis heute sehe ich nicht ein, warum Romane lang sein müssen", sagt der Erzähler darin), jene klugen Einsichten, um derentwillen man diesen feinen Ironiker so schätzt.
Für dieses schöne Buch gilt, was der junge Wilhelm Weitling bei der Lektüre von Dostojewskijs "Dämonen" treffend so formuliert: Aus Romanen nimmt man "sicherlich keine Lehre" mit, "nicht einmal eine Warnung. Vielleicht mehr Ahnungsvermögen für Abgründe."
Besprochen von Knut Cordsen
Sten Nadolny: Weitlings Sommerfrische
Piper Verlag, München 2012
220 Seiten, 16,99 Euro
Mit seinem Segelboot bricht der 68-Jährige eines Tages zu einem Törn auf. Er gerät in einen schweren Sturm, wird ordentlich durch die "Wellenmühle" gedreht, kentert, und kommt, angespült ans Ufer wieder zu Bewusstsein – aber nicht als der Alte, sondern zurückversetzt in das Jahr 1958, als er noch für jedermann Willy hieß, aufs Gymnasium in Traunstein ging und in unmittelbarer Nähe zum See in einem Holzhaus mit seinen Eltern und dem geliebten Großvater, einem Maler, lebte.
Auf seltsame Weise ist er verurteilt zu einem etwas anderen "Jugendarrest", zum "Zwangsaufenthalt" in der eigenen Vergangenheit. Er sieht sich seinen Ranzen zur Schule schleppen, vom Vater als "Häuptling Schwere Tasche" begrüßt, er beobachtet sich als schüchternen, zaghaften Jungen, den allerlei Versagensängste plagen und der sich brennend für die Geschichte der Seefahrt interessiert.
All das ist stark autobiografisch: Nadolnys Vater Burkhard war wie der "Wortlöwe" Hansjörg Weitling ein nicht allzu erfolgreicher Schriftsteller, mit dessen Tätigkeit die Bauern im Dorf nicht so recht etwas anzufangen wussten. Die Mutter Isabella (im Buch Desirée) landete in den späten 50er-Jahren einen Bestseller. Nadolnys Großvater Alexander Peltzer war tatsächlich ein Maler und lebte wie im Buch Fedor von Traumleben mit seinem Enkel unter einem Dach. Und mit 16 Jahren entdeckte Nadolny den britischen Konteradmiral und Polarforscher John Franklin. Ihm sollte er später seinen berühmtesten Roman 'Die Entdeckung der Langsamkeit' widmen ("Danach", schreibt Nadolny hier mit Blick auf seine eigene Rezeptionsgeschichte, "verlor er den Kontakt zum großen Publikum wieder, aber er blieb ein Name").
Man erfährt also viel über das Seelenleben Sten Nadolnys, wenn man Weitlings Geschichte liest. Eigene Erfahrungen literarisch zu verarbeiten, ist bei diesem Meister der Melancholie ein gängiges Prinzip seit seinem Debüt "Netzkarte". Die Methode von dessen Fortsetzung "Er oder Ich" (1999) – nämlich einer Figur ein kühl analysierendes Alter Ego zur Seite zu stellen, in diesem Fall einen "Sommerfrischler aus ferner Zukunft" - ist Nadolny-Lesern vertraut. Es gibt auch in diesem kurzen Buch ("bis heute sehe ich nicht ein, warum Romane lang sein müssen", sagt der Erzähler darin), jene klugen Einsichten, um derentwillen man diesen feinen Ironiker so schätzt.
Für dieses schöne Buch gilt, was der junge Wilhelm Weitling bei der Lektüre von Dostojewskijs "Dämonen" treffend so formuliert: Aus Romanen nimmt man "sicherlich keine Lehre" mit, "nicht einmal eine Warnung. Vielleicht mehr Ahnungsvermögen für Abgründe."
Besprochen von Knut Cordsen
Sten Nadolny: Weitlings Sommerfrische
Piper Verlag, München 2012
220 Seiten, 16,99 Euro