Zeitzeuge des vergangenen Jahrhunderts

Hans Sahl, 1902 in Dresden geboren, ist erst 1989 aus dem amerikanischen Exil nach Deutschland zurückgekehrt, wo er 1993 starb. Sein Gedicht "Die Letzten" wurde sofort als Manifest begriffen:
"Wir sind die Letzten. Fragt uns aus. Wir sind zuständig."

Er gehörte zu den Überlebenden, er war Zeitzeuge des größten Verbrechens des zwanzigsten Jahrhunderts, und er hat mit seinen beiden Erinnerungsbänden wichtige Auskunftsquellen für die Weimarer Republik und das Exil vorgelegt: "Memoiren eines Moralisten" sowie "Das Exil im Exil". Der Luchterhand Verlag startet seine neue Gesamtausgabe der Werke Sahls nun mit diesen beiden Büchern, die er in einem Band vorlegt.

Sahls deutsch-jüdische Familie siedelte bereits 1907 nach Berlin über. Ab 1926 arbeitete Sahl als Theater-, Film- und Literaturkritiker in Berlin, und er beschreibt die wenigen Jahre in der Weimarer Republik, die er als umtriebiger Teil des Kulturbetriebs erlebte, mit Verve. Er begegnet Egon Erwin Kisch, Leonhard Frank, Bertolt Brecht, Kurt Weill oder Erwin Piscator.

Früh entdeckt er den Film als ernstzunehmende künstlerische Gattung, was damals noch eine streitbare Vorstellung war. Der "Berliner Filmkurier" widmet Sahl 1930 einen Artikel als "jüngstem Filmkritiker". Sahl ist hier in einem Atemzug mit Siegfried Kracauer zu nennen: er setzt sich mit der Ästhetik des Films auseinander und engagiert sich für die Avantgarde der zwanziger Jahre. Er wird von Asta Nielsen zum Tee eingeladen und spielt für Sergej Eisenstein den Liebesboten. Im "Berliner Börsen-Courier" schreibt Sahl zudem Kritiken über Anna Seghers, Thornton Wilder oder Ernest Hemingway.

Im März 1933 flieht Sahl über Prag (zu Max Brod) und Zürich zunächst nach Paris. Seine Abkehr von der Kommunistischen Partei vollzieht er 1937, unter dem Eindruck der Moskauer Prozesse. 1940 wird er interniert und flieht nach Marseille:

"Nach dem Waffenstillstand traf ich Benjamin auf der Straße in Marseille. Ich fliehe morgen über die Pyrenäen, sagte er. Das war das letzte, was ich von ihm hörte."

1941 trifft Sahl in New York ein und findet ein möbliertes Zimmer am Riverside Drive. Er schafft es, sich in das Ostküsten-Leben einzufügen, und es entstehen grundsätzliche politische wie literarische Texte, so der Roman "Die Wenigen und die Vielen", der ihm die wichtige Freundschaft mit Hermann Broch einbringt.

1953 und 1954 liest er bei der - ihm fremd bleibenden - Gruppe 47. Er nimmt das aktuelle bundesdeutsche kulturelle Leben genauso wahr die das amerikanische: ein wirklicher Weltbürger. Seine beiden Erinnerungsbücher hinterlassen eine nachhaltige Wirkung beim Leser.

Rezensiert von Helmut Böttiger

Hans Sahl: Memoiren eines Moralisten. Das Exil im Exil
Luchterhand Verlag, München 2008
511 Seiten. 21,95 Euro