Zeitzeuge Herbert Günther

04.05.2009
Herbert Günther wurde am 13. März 1929 in Bergshausen, Kreis Kassel, geboren. Er ging in Bergshausen und Kassel zur Schule. Nach einer Schlosserlehre und dem Abitur studierte G. von 1949 bis 1952 in Marburg Jura. Günther wurde 1974 hessischer Justizminister, später auch Innenminister.
Schule nach dem Krieg

Die Schule sah so aus, dass wir in den Wohnzimmern von verschiedenen Lehrern arbeiteten, Englischlehrer in seinem Wohnzimmer, Mathematiklehrer in seinem Wohnzimmer, das war der erste Schritt zum Wiederbeginn der Schule.

Und das zweite große Ereignis war, die Schule wurde klassenweise unterrichtet in einem Restaurant in dem Kurstadtpark von Kassel. Also eine Kneipe mit einem einfachen Saal, vielleicht 40 Plätze, war dann das neue Klassenzimmer für die Schule.
Schwerer Neuanfang

Also, wir fühlten uns betrogen. Eine betrogene Jugend, die das Dritte Reich erlebt hatte und dann plötzlich von einem Tag zum anderen die Demokratie serviert bekam. Das heißt, das was vorher schwarz war, war jetzt weiß und was weiß war, schwarz. Und das bedeutete eine äußerst kritische Auseinandersetzung mit den Veränderungen, aber auch ein Wachsein, dass in Zukunft Manipulationen besser als in der Vergangenheit beachtet werden müssten, also eigene Urteilsbildung. Und dann kam hinzu natürlich, dass neben dem Psychischen auch die Lebensverhältnisse schrecklich waren. Viele hatten nicht viel zu essen und zu trinken, dass Unterernährung auch bei Mitschülern dabei war. Und das alles zusammen ergab ein sehr tristes Bild eines Neuanfangs.

Nach der Währungsreform

Allgemein wurde es erst besser nach der Währungsreform 1948. Aber entscheidend ist, dass die Währungsreform mit unserem Abitur zusammenfiel, das heißt, ein völlig neuer Abschnitt und völlig neue Eindrücke. Unsere ersten Eindrücke waren bei der Suche nach einer Berufsausbildungsmöglichkeit, dass das Abitur noch nicht das Papier wert sei, auf dem es geschrieben war. Da haben wir uns allerdings geirrt. Das Abitur hatte schon seine Bedeutung, auch für die spätere berufliche Entwicklung. Und das fing ja so an, dass dann unmittelbar in der ersten Umtauschaktion 40 DM als erste Rate gewährt wurden und kurze Zeit später noch mal 80 DM. Das war das Startgeld für uns in einer außerordentlich schwierigen Situation. Na ja, das Geld hatte schon seine Wirkung, weil man wirklich Ware dagegen bekommen konnte und man brauchte ja dringend auch Dinge für den täglichen Bedarf, wie Kleidung und auch Schuhwerk. Und da haben wir dann Schritt für Schritt mit den kleinen Mitteln uns im Lauf der nächsten Monate erst mal da verbessert in der Ausstattung. Und im Übrigen gab’s eben die Perspektive, durch einen Beruf zusätzlich zu verdienen. Und das war natürlich eine Suche nach Arbeitsplätzen, die nicht ganz einfach war. Man wusste ja nicht, wo man eine Möglichkeit finden sollte, Berufsausbildung zu machen. Und vor allen Dingen war gar kein Geld da.

Suche nach Arbeit

Mein Vater war in Russland, war Spätheimkehrer, ist erst Ende 49 zurückgekehrt. Und meine Mutter und ich, wir wussten buchstäblich nicht, wo wir das Geld hernehmen sollten. Also, was blieb übrig? Suche nach Arbeitsplätzen. Und da wurde angeboten bei den US-Streitkräften als Wachmann ein paar Pfennige zu verdienen oder auch bei dem Hauptfriedhof in Kassel als Hilfsarbeiter zu arbeiten. Das schien mir nicht ausreichend und ich habe halt den Versuch gemacht, bei der Firma, in der mein Vater früher auch gearbeitet hat, Waggonfabrik in Kassel, einen Platz zu finden. Und das ist mir auch gelungen. Da habe ich dann eine Zeit gearbeitet und auch das Geld fürs Studium verdient.

Für die ersten beiden Semester konnte ich mit meinem Akkordarbeiterlohn, ich habe ja an einer Drehkranzbohrmaschine gearbeitet in Akkordarbeit, konnte ich die ersten beiden Semester sicherstellen, die dann in Marburg auch begonnen wurden.

Ich hatte auch versucht zwischendurch mich als Lehrer zu bewerben. Und erst nach einem dreiviertel Jahr bekam ich die Nachricht, dass ich mit Musikinstrument kommen soll zur Prüfung. Ich hatte als Musikinstrument Klavier angegeben. Ich hab dann drauf verzichtet auf die Prüfung. Und bin dann im Zuge dessen zum Jurastudium in Marburg.

"Furchtbare Juristen"

Nein, die späteren schrecklichen Juristen, wie sie genannt wurden, das war ja auch im Zusammenhang mit dem Filbinger-Urteil, dem Ministerpräsidenten aus Baden-Württemberg. Die kritischen Anmerkungen zu Recht über die deutsche Justiz im Dritten Reich, das hat uns nicht aufgehalten, etwas zu unternehmen für die neue Staatsorganisation, die ich auch bejahen konnte. Von meinem Elternhaus waren wir so eingestellt, eben sozialdemokratisch. Und das heißt also, für uns war schon das Ende der Nazizeit eine Befreiung. Da konnten wir uns entscheiden und ich hab mich dann entschieden für ein Jurastudium, unter den besonderen Umständen, dass eben erst nach zwei Semestern Marburg mein Vater aus Russland zurückkam. Und dann ging’s wirklich aufwärts. Da war die Hilfe da und die Berufsausbildung gesichert.

Heimkehr des Vaters

Also das war ein ungeheurer Eindruck. Das ganze Dorf war auf den Beinen. Das war ja einer der letzten Heimkehrer und er war Gott sei Dank in einer guten körperlichen Verfassung trotz der Kriegsgefangenschaft gewesen, hatte dort gearbeitet. Er konnte ja als Handwerksmeister verschiedene Berufe ausüben. Und da gab’s also nun – wirklich, das war der große Aufschwung, auch vom Gefühl her ähnlich. Das für mich Überraschende war, dass er die Russen sehr lobte. Und das war mir zunächst unverständlich. Da hat er gesagt, die haben das Letzte mit uns geteilt. Das heißt also, die Leute in Russland, die einfachen Leute haben genauso gelitten unter dem Krieg und auch den Nachkriegsverhältnissen und die haben das Letzte noch mit ihnen geteilt.

Insofern kam er sehr positiv mit der Einstellung gegenüber Russland zurück. Mein Vater war ganz entschieden der Meinung, dass wir nicht einen Kampf gegen Russland führen sollten, das war damals der neue Begriff, jetzt gleich gegenüber den Amerikanern und Engländern unmittelbar nach Kriegsende zusammen gegen Russland zu marschieren, gegen die Sowjetunion. Mein Vater sagt, das sind Menschen, die genau wie wir sehr gelitten haben und – na, gut.

Entnazifizierung und Spruchkammern

Also, das war ja im Grunde ein Flop, das Ganze, aber ein gut gemeinter Versuch zur Entnazifizierung und zu einer Umerziehung, so nannten das die Amerikaner, Umerziehung zu Demokraten. Das kann man auch heute noch belächeln. Das ist auch zum Lächeln. Interessant war, dass Lehrer, die in das Verfahren vor das so genannte Spruchkammer kamen, weil sie eben frühzeitig Parteimitglieder waren im Dritten Reich, uns als Zeugen dafür benannten, dass sie aber am Ende des Krieges oder während der Schulzeit im Krieg skeptisch und kritisch gegenüber den Nationalsozialisten Erklärungen abgegeben haben. Das war so eine ganz merkwürdige Situation, dass mich ein – unser Klassenlehrer oder auch andere Lehrer ansprachen, ob ich bereit wär, das auszusagen vor der Spruchkammer. Ich war auch bereit, aber ich wurde nie geholt. Das Ganze verlief dann im Sande. Die wurden als Mitläufer eingestuft und die Verfahren wurden eingestellt.

Die Rückkehr der alten Eliten

Für mich war die große Überraschung – und für andere auch -, dass plötzlich von heute auf morgen umgedacht wurde, dass dann die Lehrer, die erst später wieder in der Schule erschienen, nach einiger Zeit, wo sie nicht eingesetzt wurden, dann versucht haben, wieder neu zu erklären, warum, wieso, weshalb es jetzt so sein müsste. Also reichlich Stoff zum Nachdenken.

Der Schulrat, der war nach dem Krieg, nachdem er auch eine zeitlang nicht zugelassen war, wieder der Chef, so wie ich es auch übrigens einkalkuliert hatte am Kriegsende, als er uns bat, nach Mitteldeutschland aufzubrechen, damit wir dann gerettet würden vor den schrecklichen Waffen, die der Führer noch einsetzen könne.

Der Weg zum Grundgesetz

Gar keine Frage, dass die Entwicklung nach 1945 bis zum Grundgesetz, 1949 in Kraft getreten, uns unmittelbar interessiert hat und auch bei mir uneingeschränkt mit bejaht werden konnte. Mit großer Aufmerksamkeit habe ich verfolgt, dass die Hessische Verfassung wesentliche Impulse für die Bundesverfassung gab. Das heißt, ein sozialer Rechtsstaat, das Soziale war sehr stark betont worden, um zu verhindern, dass also wieder eine Diktatur kommen könnte, auch Grundrechte eingetragen, die natürlich unumkehrbar sind. Das heißt, Würde des Menschen und Verfahrensgarantien in einem Rechtsstaat waren ganz wesentliche Säulen der neuen Demokratie, die ich bejaht habe und auch jetzt noch heut bejahen kann.

Deutsche Teilung

Interessiert an den öffentlichen Dingen und an der Politik war ich und auch eine ganze Reihe von meinen Klassenkameraden. Und ich hab in Erinnerung, dass die Außenministerkonferenz in London, das muss also einige Monate vor der Währungsreform 1948 gewesen sein, mit dem Ziel, eine einheitliche Entwicklung in Deutschland zu garantieren, gescheitert war. Das gab Anlass zu lebhaften Debatten und hat auch tatsächlich dazu geführt, dass Deutschland dann vier Jahrzehnte geteilt war. Jede Seite, die Sowjets auf der einen, die westlichen Alliierten auf der anderen Seite, brachten eigene Währungsgesetze, das war die entscheidende Auseinandersetzung natürlich für den Bruch. Und die Auseinanderentwicklung war klar abzusehen.

Hat der Weg in die Teilung die Gymnasiasten berührt und warum?

Ja, die politisch Interessierten auf jeden Fall, weil sie wussten, dass das ganz andere Perspektiven gibt für unser Land und dass die Gefahr besteht, dass wir wieder an einer Grenze sind zwischen zwei einflussreichen Mächten mit all den Problemen, die im Grenzgebiet sich ergeben könnten. Wir waren alles andere als glücklich, sondern enttäuscht und besorgt wegen der künftigen Entwicklung.