"Ich habe die Rolle nicht gespielt, ich wurde ein echter Hitlerjunge"
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Er war der "Hitlerjunge Salomon" aus dem gleichnamigen Film. Sally Perel gab sich als "Volksdeutscher" aus und überlebte so die Nazizeit. Als Zeitzeuge liest und spricht der mittlerweile 95-jährige Autor noch immer regelmäßig vor Schülern.
Als Junge merkte der 1925 geborene Salomon "Sally" Perel zunächst nichts davon, dass er der einzige Jude auf seiner Schule war. "Ich hatte in Peine wirklich eine sehr glückliche Kindheit." Nachdem das Geschäft des Vaters zerstört wurde, floh die Familie nach Łódź in Polen. Von dort aus schickten die Eltern ihn und seinen älteren Bruder weiter nach Osten, um zu verhindern, dass sie den Nazis in die Hände fallen.
"Zum Abschied sagte mein Vater: ‚Bleibe immer Jude, glaube immer an Gott, dann wird dich Gott auch immer beschützen.‘ Meine Mutter fügte dann noch drei Abschiedswörter hinzu: ‚Du sollst leben!‘"
Perel landete in einem russischen Waisenhaus. Dort wird er im Alter von 16 Jahren von den Deutschen gefangen genommen. Wie alle anderen wurde auch er gefragt, ob er Jude sei.
"Da musste ich mich entscheiden zwischen Vater und Mutter, beide Botschaften konnte ich nicht erfüllen. Mir schien damals und mir scheint auch heute, dass das Recht auf Leben über jeglicher Form von Glauben und Religion steht - und dann habe ich gesagt: ‚Ich bin doch kein Jude, ich bin Volksdeutscher'."
Aus Sally wird Josef
Wie durch ein Wunder glaubt ihm der deutsche Soldat und lässt ihn nicht die Hosen runterziehen, um zu sehen, ob er beschnitten ist. Von da an gibt sich Perel als Josef Perjell aus, genannt Jupp. Er wurde aufgrund seiner Polnisch-, Deutsch- und Russischkenntnisse zum Dolmetscher in der Wehrmacht und ging mit seiner Einheit bis nach Moskau.
Ein knappes Jahr später wird er nach Braunschweig auf ein HJ-Internat geschickt. Dort wird er zum überzeugten Hitlerjungen: "Ich habe diese Rolle nicht gespielt. Ich wurde es. Ich wurde ein echter Hitlerjunge. Sally wurde verdrängt bis ins totale Vergessen. Und der Dominante war jetzt der Hitlerjunge Josef, sodass niemand erkennen konnte, wer ich eigentlich in Wirklichkeit bin."
Gehirnwäsche mit Langzeitfolgen
Im Alltag der Eliteschule passte sich Perel an: "'Heil Hitler' und 'Sieg Heil' und die Lieder gesungen - ‚wenn das Judenblut vom Messer spritzt, geht’s uns nochmal so gut‘ - alles mitgemacht." Um zu überleben, ließ er eine sehr effektive Gehirnwäsche über sich ergehen.
In der Nacht kam manchmal der jüdische Sally wieder zum Vorschein: "Nachts erinnerte ich mich ans Ghetto, an Papa und Mama und meine Schwester, manchmal bis zu den Tränen, aber am nächsten Morgen wieder in Uniform zum Appell, da wollte ich den Endsieg des Dritten Reiches."
Diesen Hitlerjungen, mit dessen Ansichten er indoktriniert wurde, sei er bis heute nicht vollkommen losgeworden: "Ich reagiere noch manchmal wie ein junger Nationalsozialist. Wie ein Pawlowscher Reflex. Zum Beispiel, wenn ich einen Dokumentarfilm sehe, so wie ich die erste Hakenkreuzfahne sehe, oder wie sie marschieren, dann will Jupp da wieder mitmarschieren." Dann müsse Sally kommen und Stopp sagen.
Leben mit einem großen Geheimnis
1948 wanderte Perel nach Israel aus und ließ die unfreiwillige Nazi-Vergangenheit erstmal hinter sich. "Dass ich da einigermaßen normal herauskam, ist wirklich ein Wunder", stellt Perel heute fest. Das Geheimnis seiner Überlebensgeschichte erzählte er jahrzehntelang nur seinen beiden Brüdern. Erst als er Mitte der 80er-Jahre am Herzen operiert wurde, beschloss er, seine Geschichte aufzuschreiben.
"Ich benötigte 40 Jahre, diese Zeitdistanz, um mir erstmal klar zu werden. Wer war ich, was war das, war ich Opfer, war ich Täter, war ich Jude, war ich Nazi, war ich alles zusammen in einem Körper?"
Das Buch "Ich war Hitlerjunge Salomon" zu schreiben half dabei. Es war eine Art Selbsttherapie. Dass es einmal so erfolgreich werden und sogar ein Film über seine Geschichte gedreht werden würde, wäre ihm damals nicht in den Sinn gekommen.
Der Zeitzeuge mit Friedensbotschaft
Nach ersten positiven Erfahrungen mit einer Schulklasse, der er seine Geschichte erzählte, begann Perel regelmäßig in Schulen Vorträge zu halten und über seine Erfahrungen zu sprechen, zuerst in Israel, dann vor allem in Deutschland. Den Kindern und Jugendlichen fällt es zumeist leicht, sich mit seinem Überlebensweg zu identifizieren.
Sein Anliegen sei es, eine Botschaft des Friedens zu vermitteln und vor der Macht der Indoktrination zu warnen, "da erst bekommt mein Überleben den richtigen Sinn", sagt er. Auch mit 95 Jahren denke er nicht ans Aufhören und hoffe, dass die Einschränkungen wegen der Coronapandemie bald vorbei sind:
"Ich wünsche mir, weiterhin die Möglichkeit zu haben, gesundheitlich meine Tätigkeit fortzusetzen, meine jungen Mitmenschen aufzuklären für Demokratie, für Frieden, für Annäherung aller Kulturen und Völker und für Toleranz. Diese Werte möchte ich noch jahrelang der Jugend mit meiner Geschichte überliefern."
(mah)