Der Band "Lebenswege und Jahrhundertgeschichten - Erinnerungen jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion in Nordrhein-Westfalen", aufgezeichnet von Ursula Reuter und Thomas Roth, ist im Emons-Verlag Köln erschienen und kostet 39,95 Euro.
Schmerz der Erinnerung, Glück des Überlebens
Seit Beginn der 1990er-Jahre haben über 200.000 Juden die ehemalige Sowjetunion verlassen und sind nach Deutschland eingewandert. Zehntausende von ihnen kamen nach Nordrhein-Westfalen und fanden dort in den jüdischen Gemeinden Aufnahme. Viele von ihnen haben unter den stalinistischen Säuberungen gelitten, im Krieg gegen die Deutschen gekämpft, das Grauen der Leningrader Blockade durchlebt und all das nur mit Glück überlebt.
Wochenschau 1941: "Leningrad, ein Eckpfeiler der Sowjets an der Nordfront, ist nun von allen Seiten eingeschlossen. Deutsche Kampfflugzeuge greifen die bolschewistischen Stellungen an …"
Die 900 Tage andauernde Belagerung Leningrads durch deutsche Truppen hat begonnen. In diesem Winter 1941/42 fallen die Temperaturen auf minus 40 Grad. Es gibt weder etwas zu essen noch zu heizen. Tatjana Polotowskaja ist damals elf Jahre alt. Bis heute erinnert sie sich an den Horror dieses Winters:
"Mein Vater musste die Lebensmittelkarten von seiner Arbeitsstelle abholen und meine Mutter schickte mich mit. Es war ein weiter Weg. Wir gingen am Hospital vorbei, in dessen Park die gestapelten Leichen der Verhungerten und Erfrorenen lagen, in Decken eingenäht. Die Leichen wurden dort gesammelt, um sie später zum Piskarjowka-Friedhof zu transportieren. Wir haben die Lebensmittelkarten bekommen und Mutter konnte Brot kaufen. An den Rückweg erinnere ich mich kaum. Vater war danach so erschöpft, dass er wenige Tage später starb."
Ursula Reuter: "Sie hat die ganzen 911 Tage der Leningrader Blockade erlebt. Was ich bei ihr gespürt habe, dass es da schon eine sehr große Verbitterung nach dem Krieg gegeben hat, als klar wurde, dass Leningrad eigentlich auch vom eigenen Staat verlassen worden ist. Es gab natürlich den Feind, die Deutschen und die Möglichkeit zu überleben war, indem man sich gegen den Feind gewehrt hat. Aber dann hinterher diese Erkenntnis, dass einen der eigene Staat völlig im Stich gelassen hat, das hat doch zu einer großen Desillusionierung geführt."
Ohne die beiden Historiker wären viele Geschichten vergessen
Tatjana Polotowskajas traumatische Kindheitserlebnisse wären wohl in Vergessenheit geraten, wenn sich nicht die beiden Kölner Historiker Ursula Reuter und Thomas Roth für ihre Geschichte interessiert und sie aufgezeichnet hätten. Und vergessen worden wäre wohl auch diese Geschichte.
Thomas Roth: "Es gibt da eine Dame, deren Vater ein Rechtsprofessor im kommunistischen System war, der in Leningrad die bürgerliche Universität umstrukturieren und stalinisieren sollte, der Lehrbücher verfasst und am Aufbau eines kommunistischen Rechtssystems mitgearbeitet hatte. Er sollte irgendwann mal ein Buch zu dem Lagerkosmos Gulag schreiben, ein Buch, das diesen Gulag rechtfertigte! Und er ist hingefahren, hat sich das angeschaut und hat dieses Buch nicht schreiben können. Und sie erzählt sehr eindrücklich, wie er dann in Ungnade fällt und verhaftet wird und sie keine Ahnung hat, was mit ihm passiert und erst sehr viel später erfährt, dass er ermordet wurde."
40 Zeitzeugen, alle Juden aus der ehemaligen Sowjetunion haben Ursula Reuter und Thomas Roth ihre oft abenteuerlichen Lebensgeschichten erzählt. Da alle Teilnehmer an diesem Projekt zwischen 1914 und 1938 geboren wurden, spiegeln ihre Berichte die Geschichte eines ganzen Jahrhunderts wider - die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg und der Oktoberrevolution, den Terror der Stalin-Ära, den Zweiten Weltkrieg bis hin zu ihren Erfahrungen in Deutschland heute.
Es sind Schilderungen vom Kampf an der Front, vom Leben und Sterben in Lagern und Ghettos, von den Schrecken der deutschen Besatzung, der Nachkriegszeit und dem Zusammenbruch der Sowjetunion; von Leid und Trauer, von Hunger, Kälte und Tod, aber auch vom Glück des Überlebens. Und von ihrer neuen Heimat: Deutschland.
Für die meisten von Ursula Reuters und Thomas Roths Gesprächspartnern war es das erste Mal, dass sie so offen über ihre Erlebnisse sprechen konnten. Das von der Kölner Synagogengemeinde in deutscher und russischer Sprache umgesetzte Projekt sollte denn auch den alteingesessenen deutschen Gemeindemitgliedern die Schicksale der Zugewanderten näherbringen. Denn "die Russen" hatten gegenüber "den Deutschen" bisher meist über ihre Erlebnisse geschwiegen.
Thomas Roth: "Sie haben natürlich Gesprächskreise der Überlebenden, der ehemaligen Rotarmisten, der früheren Blockade-Opfer gebildet und untereinander sehr stark sich darüber ausgetauscht, aber der Bezug in die deutsche Öffentlichkeit war nicht so gegeben. Vielleicht hatten sie auch das Gefühl, dass der Kontakt zu den deutschen Gemeindemitgliedern und deren Erzählungen auch nicht so gegeben war. Deshalb ist dieses Projekt sehr wichtig, weil es auch das Gespräch in den Gemeinden aktivieren soll."
Die 1914 bis 1938 Geborenen mussten zwei Diktaturen überleben
So unterschiedlich die Geschichten sein mögen - alle in dieser Zeitspanne Geborenen haben zwei große politische Zäsuren erlebt, mussten versuchen, in zwei Diktaturen zu überleben:
Thomas Roth: "Da gab es viele Leute, die das Überleben unter deutscher Besatzung in den Mittelpunkt gestellt haben oder die Flucht davor, aber es gab auch welche, die den Stalinismus besonders betont haben. Sie haben auch während der NS-Besatzung viele Familienmitglieder verloren, aber ihnen ist sozusagen als prägendstes Ereignis in Erinnerung geblieben, wie der eigene Vater, obgleich gläubiger Kommunist oder Wissenschaftler im stalinistischen System in den 30er Jahren vor ihren Augen verhaftet wurde."
Mit einigen der Zuwanderer, etwa denen, die früher in der Roten Armee gekämpft haben, sei, so Thomas Roth ein ganz neues Moment in die deutsche Erinnerungskultur gekommen:
"Weil diese Leute mit einem unglaublichen Stolz hier auftreten. Man hat ja vorher in der deutschen Öffentlichkeit mit den jüdischen Überlebenden vor allem die Opferrolle assoziiert und hier kamen auf einmal Männer, aber auch Frauen, die mit großem Stolz den Sieg über Deutschland gefeiert haben. Das war für uns auch unmittelbar sichtbar, weil bei jedem Interview, das wir mit Rotarmisten geführt haben, die irgendwann ihre Jacken rausgeholt haben mit Orden behängt und Ehrenzeichen, und wenn man sie gefragt hat, konnten sie zu jedem dieser Orden noch eine eigene Geschichte erzählen."
Fast allen von ihnen ist durchaus die Zwiespältigkeit ihrer neuen Existenz klar: Sie haben unter den Deutschen gelitten und gegen sie gekämpft und dann - in Deutschland um Aufnahme gebeten.
Ursula Reuter: "Den Betreffenden ist das sehr bewusst, und sie haben das auch immer von sich aus thematisiert. Fast alle haben sich sehr positiv über das heutige Deutschland geäußert und gesagt: Das ist ein anderes Deutschland als das, was wir damals erlebt haben."