Zeitzeugen

"Wir sind die letzten Mementos"

Von Fredy Gareis |
Etwa 200.000 Überlebende des Holocaust wohnen noch in Israel. Sie haben Bergen-Belsen, Dachau und Auschwitz überstanden. Viele von ihnen leiden unter Einsamkeit, Leere, Depression, ein Viertel der Überlebenden gilt als arm. Viele sind vereinsamt, weil sie ihre Familie verloren haben und sich noch heute mit der Frage quälen: Warum habe ich überlebt? Warum nicht die anderen?
Agnes Gramses Haar ist voller blondierter Strähnen. Alles in ihrer Wohnung ist gleichzeitig akkurat und gemütlich eingerichtet. Agnes Gramse ist Jahrgang 1928 und hat Auschwitz überlebt.
Sie wohnt im Anita Müller Cohen Heim in Ramat Gan bei Tel Aviv, einer Stätte für Überlebende des Holocausts. Ihre Wohnung liegt im Erdgeschoss und die gebürtige Ungarin ist noch rüstig. Sie braucht keine Rund-um-die-Uhr-Pflege wie viele anderen hier. In ihrem Bücherregal steht ein Baedecker-Reiseführer von 1892 über die Doppelmonarchie Österreich-Ungarn.
Agnes Gramse sagt, es gehe ihr gut, sie sagt, sie kann sich nicht mal mehr an die Nummer der Tätowierung erinnern. "Das ist alles schon so lange her." Doch dann blättert sie in einem Fotoalbum, sie findet ein Gedicht, sie rückt ihre goldumrandete Brille zurecht und beginnt zu lesen.
"Neben mir sitzt meine Mutter, sie ist so schön und so gescheit. Aus ihren besorgten Gesichtszügen, ich glaube sie ahnt und weiß Bescheid. Großgewachsen und so stattlich sitzt mein Vater sehr besorgt, er hält im Schoß meinen kleinen Bruder und flüstert ihm Trost ins Ohr. Essen selten schon kein Wasser und ein Kübel statt Latrine. Hundert Menschen eingeschlossen in Lastwagen nur für Vieh."
Das Gedicht handelt vom Transport nach Auschwitz, Agnes Gramse schreibt es Jahre nach der Befreiung, ein kleiner Akt der Verarbeitung. Sie zündet sich eine Zigarette an, nimmt ein paar Züge und legt sie in den Aschenbecher.
"Was wird uns das Schicksal bringen, dieser armen Menschenmasse? Tränen fließen ohne Ende und ich spüre nicht mal Hass. Der Zug hält an mit viel Geschrei, man jagt uns runter, raus aus der Bahn, das Schild ist groß: Arbeit macht frei. Die Hunde bellen, es fängt an der Wahn."
Ihre Hände zittern nun, die Ringe an ihren Finger reflektieren das Licht. Immer wieder rückt sie ihre Brille zurecht.
Auch wenn das Leben in der Zwischenzeit gut zu ihr war, sie Kinder und Enkel, einen funktionieren Verstand hat: wenn die Tür zur Vergangenheit erst einmal offen ist, gibt es kein Zurück mehr.
"Häftlingsfriseur schneidet die Haar, blonde Zöpfchen, das war einmal. Plötzlich, plötzlich sehe ich meine Liebsten im Raum, Tränen fließen ohne Ende, man erkennt sich ja kaum. Auschwitz ist der nächste Ort wird uns erklärt, dahinter die Schornsteine, wo ewig so brennt, da brennen die Kinder, die sind noch so klein, die Alten und Kranken, die kommen nicht mehr heim. Mein Arm wird tätowiert, ich bin nun ein Häftling, es herrscht Ordnung im Lager im Jahre 44."
Zwei Stockwerke höher beginnt der 19- jährige Fabian Türk seinen Arbeitstag auf der Pflegestation.
Fabian wischt sich eine braune Locke aus dem Gesicht und setzt sich an den Tisch von Betty, einer Frau mit grauen Haaren und nur noch einem Auge.
Anfangs hatte er Berührungsängste
Seit mehreren Wochen leistet der schmale Österreicher mit den hellbraunen Shorts und den weinroten Adidas-Schuhen hier seinen Zivildienst. Anfangs hatte er Berührungsängste, aber die hat er inzwischen abgelegt.
"Weil die haben schon lustige Persönlichkeitszüge. Die eine Frau ruft zum Beispiel immer: young man, young man. Und dann setze ich mich an den Tisch und quatsche mit ihr. Sie ruft halt immer quer durch den ganzen Saal nach mir. Oder ein Typ, der sieht und hört halt nichts mehr, hört schon, aber ziemlich schlecht, der kommt aus Wien und ist ziemlich straight. Haben Sie gut geschlafen? Ja! Und mehr kommt da halt nicht mehr. Und dann versuche ich immer über Wien und Hans Moser zu reden, und dann blüht er voll auf."
Seinen Arbeitstag beginnt er immer hier oben, arbeitet sich von Tisch zu Tisch, füttert Frauen und Männer, hält ein Schwätzchen hier und da.
Danach besucht er die Bewohner der anderen Abteilungen, geht mit ihnen einkaufen, spielt mit ihnen Schach, Karten oder Stadt Land Fluß, singt "Rote Lippen soll man küssen" oder hört ihnen einfach nur zu.
120 Einzelschicksale beherbergt dieses Haus. 120 Menschenleben, die dem Tod geweiht waren. Es war Schicksal, Glück, auch Mut – die 120 Bewohner sind der Hölle entkommen. Jetzt kümmert sich Fabian um sie. Der Zivildienstleistende im Strandoutfit ist eine Frohnatur. Auf seinem gelben T-Shirt steht: "Honolulu - Wo die Sonne niemals untergeht".
"Also ich habe mir vorgenommen in der ersten Zeit in der ich da bin, nicht so viel zu fragen, sondern erstmal hören, was die eigentlich sagen wollen, ganz allgemein ..."
Auf dem Weg hinunter in den ersten Stock nimmt Fabian zwei Treppen auf einmal; er ist unterwegs zu Agnes Gramse, der Auschwitzüberlebenden. Im Foyer nehmen die Putzfrauen gerade die Glasplatten von den Tischen und wischen selbst unter den Rändern den Staub.
Agnes steht vor dem CD-Player. Dieses Lied von Leonard Cohen hört sie immer wieder, heute will sie es ungedingt Fabian vorspielen. Der Gedanke, es in Verbindung mit dem Holocaust zu deuten, liegt nah: Halleluja, ich habe überlebt. Aber der Gedanke trügt. Viele der Überlebenden können nicht verstehen, warum sie dem Horror entflohen sind.
"Ich bin ein Masochist vielleicht: ich muss jedes Buch, jeden Film sehen, weil irgendwie fühle ich mich schuldig. Warum bin ich am Leben geblieben? Warum?"
"Survivors Guilt" nennt sich der Fachbegriff, Opferscham. Zu diesem Gefühl des ungerecht verteilten Lebens kommt die Tatsache, dass die Überlebenden aus den Lagern nach Ende des Krieges in Israel keineswegs mit offenen Armen empfangen werden.
"Man hat darüber geschwiegen, weil man hat gesehen, dass die Einstellung der jungen Soldaten, die als Sieger zurück gekommen sind, für die waren wir eine Herde, die zur Schlachtbank geführt wurde. Aber die haben überhaupt die Zustände nicht gekannt. Hier hat man gedacht, wir waren Feiglinge. Aber die haben nicht gewusst, dass wenn einer sich wehrt, dann können Hunderte dafür sterben."
Fabian verabschiedet Agnes Gramse und geht in die Bibliothek im zweiten Stock, um mit drei Damen Kanasta zu spielen. Sein Großvater trug noch die SA-Uniform, aber Fabian wird die nächsten Monate seines Lebens hier sein, um im Altenheim für Holocaustüberlebende, um den 120 Mementos der Geschichte einen schönen Lebensabend zu bereiten.
Sonja Lepkücher kümmert sich um die bürokratischen Belange
Im Büro des Heims arbeitet Sonja Lepkücher. Sie stammt aus Frankfurt, ist mit einem Israeli verheiratet und kümmert sich um die bürokratischen Belange der Bewohner. Ihr Blümchenkleid passt zu den bunten Vorgärten draußen. Die Opferscham, von der Agnes spricht, kennt sie gut.
"Also ich kenne auch einen Fall aus dem Freundeskreis, wo der Vater, wo der Sohn erst nach dem Tod des Vaters rausgefunden hatte, dass der Vater quasi eine komplette Familie in Europa hatte, die er aber verloren hatte und sein ganzes Leben darüber geschwiegen hat. Er ist alleine nach Israel, hat geheiratet, eine neue Familie gegründet und erst nach seinem Tod hat man durch Korrespondenz von seiner anderen Familie erfahren."
In Deutschland schwieg man aus Täterscham. In Israel aus Opferscham. Erst mit dem öffentlichen Prozess gegen Adolf Eichmann 1961 brechen die Bunker des Schweigens auf. Zuvor passten die schwächlichen Überlebenden nicht in das Konzept des neuen starken Juden, dem auf israelischem Boden geborenen Sabra.
Heute haben die etwa 200 000 Überlebenden andere Probleme. Einsamkeit, Depression, Leere. Die verdrängten Gefühle aus der Zeit des Grauens kommen hoch, suchen ein Ventil. Hinzu kommt, dass rund 50.000 von ihnen sich ein Altern in Würde gar nicht leisten können. Sie leben in Armut. Agnes Gramse gehört zu den Privilegierten.
Auf dem Herzlberg in Jerusalem erinnert die Gedenkstätte Yad Vashem an die Verbrechen gegen die Juden im zweiten Weltkrieg. In einer der Hallen erzählt eine Stimme von den ermordeten Kindern des Holocaust. Kerzen werfen einen Schimmer in das Schwarz, Bilder von unschuldigen Gesichtern werden geisterhaft an die Wände projiziert.
Die 25-jährige Liron Mark tritt aus der Halle, blinzelt, um sich wieder an die grelle Sonne zu gewöhnen, die über den Hügeln Jerusalems scheint. Im Licht wirkt der helle Teil ihres weiß-blauen Kleides wie ein Reflektor.
"Ich versuche ungefähr jeden Monat hier zu sein, und schleppe auch jeden Freund mit, der nach Israel kommt, egal ob Jude oder nicht. Für mich ist das so eine Art Tribut an mein jüdisches Volk, weil es einfach nicht langt, über den Holocaust zu reden. Der Holocaust ist ein großes Wort, aber am Ende stehen Millionen Schicksale dahinter, nicht nur die Millionen von Toten, sondern auch die Millionen, die dadurch nie geboren worden sind."
Während ihres Jurastudiums lernt Liron zwei weitere Holocaust-überlebende kennen. Sie befreundet sich mit dem älteren Ehepaar, die beiden werden ihre zweiten Großeltern. Eines Tages zeigen sie Liron Formulare, die sie ausfüllen sollen, um an Geld zu kommen, das ihnen zusteht. Unter anderem wird verlangt, dass sie von einem Therapeuten den Beweis erbringen, dass sie unter Folgeschäden leiden.
An der Universität von Jerusalem sammelt sie Freiwillige aus ihrem Studiengang, die den Überlebenden bei den Formularen helfen sollen. Sie gehen in Privathaushalte und Heime und versuchen das Dickicht der Bürokratie zu durchdringen. Denn wer nicht bereits in den 50-er-Jahren die entsprechenden Anträge gestellt hat, hat es heute schwer an die israelischen Opferrenten zu gelangen. Die nötigen Papiere sind oft nicht mehr vorhanden. Gäbe es nicht Menschen wie Liron und ihre Initiativen, ginge es vielen Überlebenden noch schlechter.
Immer wieder behaupten Wohlfahrtsorganisationen, dass die Regierung Gelder, die für die Überlebenden bestimmt sind, anderweitig ausgibt.
"Obwohl ich erst 25 bin, fühle ich mich für jeden Überlebenden schuldig, der nicht wie ein König lebt. Jedesmal wenn ich einen Überlebenden besuche, der noch nicht mal unbedingt in Armut lebt, aber alleine schon unterhalb des Standards … ich weine ja jetzt schon fast. Wir sind ihnen das schuldig und ich hoffe, dass etwas von dem, was ich tue, Gutes bewirkt, besser spät als nie."
160 Kilometer weiter nördlich, in der Küstenstadt Haifa toben Schulkinder auf dem Pausenhof, ihr junges unbeschwertes Geschrei und Gebrüll dringt rüber auf die andere Straßenseite, durch ein Fenster des Heims "Helfende Hände", durch das Fenster von Leokadia Szlak, Jahrgang 1924.
Den Kinderlärm mag sie noch hören, nicht aber die Autos, die durch die Straße rasen, den Müllwagen, die direkt vor ihrer Tür hält. Sie mag nicht mehr die Toilette nebenan riechen. Und sie hätte gerne mehr Licht.
"Mein Herz fließt über von Schmerz. Ich bin so unglücklich in dieser Wohnung. Diese Finsternis hier, es wird doch schon finster genug in meinem Grab."
Die Rechnungen wachsen ihr über den Kopf
Leokadia Szlak ist Überlebende wie Agnes Gramse, und ihr fehlt es an allem. Die Rechnungen wachsen ihr über den Kopf, ihre Wohnung ist schäbig, und sie fragt sich, warum ihr keiner hilft, warum sie betteln muss. So wie die anderen 50.000 Überlebenden, die in Israel die letzten Jahre ihres Lebens in Armut verbringen. Sie ist eine derjenigen, denen Liron Mark helfen könnte, etwas mehr Geld für die steigenden Rechnungen zu bekommen.
Frau Szlak sitzt an einem kleinen runden Tisch, auf ihrem ordentlich gemachten Bett sitzt eine Puppe der Marke "Cabbage Patch", an der Wand hängt eine Zeichnung von ihrem Mann, der gemeinsam mit ihr in Dachau befreit wurde, um anschließend von einem Auto überfahren zu werden.
Auf dem Tisch steht eine Kleenex-Box und wenn Frau Slak erzählt, dann wechseln auf ihrem Gesicht ständig die Wetterfronten: zwischen kurzen Perioden des Sonnenscheins, blitzt, donnert und regnet es.
63 Monate hat sie in Konzentrationslagern verbracht, sie war in Auschwitz und in Dachau. Auf ihrem Unterarm zeugt nur noch ein Strich davon.
"Ich wollte nicht sterben mit der Nummer, weil ich bin nicht geboren mit der Nummer. Die Nummer will ich nicht mitnehmen in mein Grab."
"Könnten sie sich noch erinnern an die Nummer?"
"65906."
Die Tätowierung hat sie sich entfernen lassen, aber da ist noch genug, was in Kopf und Herz sitzt und sie nicht mehr los lässt.
"Wenn ich war in Birkenau, um 21 Uhr war Lagerruhe. Man durfte keinen Mund aufmachen, wir sollten ruhig sein, wir haben die Autos, die Transporter gehört, die die Menschen ins Krematorium fahren und die Menschen haben geschrien "Schma Israel, Höre Israel!" Und das verfolgt mich bis heute."
Während im Speisesaal das Mittagessen vorbereitet wird, macht sich Frau Szlak frisch. Sie holt einen Taschenspiegel hervor, legt Puder auf, versucht die Regenspuren zu beseitigen. Um ihren Hals trägt sie eine Plastikperlenkette.
Das Essen ist eines der wenigen Dinge, die ihr noch Spaß machen. Wie viele der Überlebenden hat sie den Hunger nie vergessen.
"Als der Krieg vorbei war, als ich befreit wurde in Dachau, habe ich nicht daran gedacht, wo sind meine Eltern, wo sind alle. Ich wollte nur essen. Essen, essen. Mein Kopf war voll mit essen. Ich habe das nicht überwunden, dass ich nicht an meine Eltern gedacht habe, nur ans Essen."
Den Kopf schwer mit dem Gedanken an Schuld geht sie aus ihrem 15 Quadratmeter großen Zimmer, das umgerechnet 400 Euro kostet und schließt die Tür ab.
Es sind nur ein paar Schritte in den Speisesaal, vorbei an der stinkenden Toilette. Frau Slak reiht sich ein in die Schlange am Buffet. Sie lädt ihren Teller voll mit Reis, Hühnchen, Hackbällchen und Okra, gute israelische Hausmannskost, der reichliche und fettige Gegensatz zu den 200 Gramm leimartigen Brot und dem Teelöffel Marmelade in Auschwitz.
30 Überlebende wohnen hier, sie könnten es sich woanders nicht leisten. Der Gründer Shimon Shabag eröffnet das Heim vor drei Jahren, nachdem ihm auffällt, dass viele Abnehmer in seiner Suppenküche die Tätowierungen der KZs tragen.
Ein alter Mann setzt sich zu ihr an den Tisch, Fred heißt er, ist 93 und die beiden unterhalten sich während die Teller leerer werden - es muss ein gutes Gefühl sein zu wissen, dass es immer Nachschlag gibt. Doch die Themen reichen weit zurück in die Vergangenheit.
Dann ist Frau Szlak fertig mit dem Mittagessen; einen kleinen Teller mit Bohnen bringt sie in ihr Zimmer, stellt ihn in den Kühlschrank.
Sie geht Mirjam besuchen, ihre einzige Freundin hier. Die wohnt hinter der Küche gleich links, sitzt in einem Stuhl immer so, dass sie nach draußen schauen kann. Auch wenn ein Teil der Aussicht nur die nächste Hauswand zeigt.
Frau Szlak setzt sich aufs Bett. An der Wand hängen bunte Masken und Bilder, die der verstorbene Mann gemalt hat: Häuser am Strand, Feldarbeiter unter der Sonne - ein Regenbogen an Farben gegen die Dunkelheit des Ghettos im polnischen Dubnov. Von dort stammt die heute 90-jährige, eine Frau mit blassen Augen, hängenden Wangen, verknorpelten Fingern und einer sanften Stimme. Als Mädchen arbeitet sie damals im Ghetto für die Deutschen als Köchin; doch selbst in den Räumen der Küche ist sie nicht sicher vor dem um sich greifenden Hass.
"Und da hat er ein Messer genommen und das Schwein in zwei Teile geschnitten und das Blut hat gerinnt und wir haben angefangen zu schreien und zu weinen, wollten zurück in die Küche, aber er sagte nein, schaut nur, so wird auch das Blut der Juden rinnen.’"
Als es Gerüchte gibt, dass das Ghetto judenrein gemacht wird, fälscht sie sich einen Ausweis und will gemeinsam mit ihren Eltern fortlaufen. Aber die Eltern sind alt und müde. Sie sagen: Du musst alleine laufen.
Wer nicht dabei war, kann nicht verstehen
Drei Jahre ist sie unterwegs, bis sie 1944 in Israel ankommt.
In ihre Erzählung schleicht sich immer wieder ein kurzes, kehliges Lachen, eine gewisse Ungläubigkeit darüber, wie sie das damals geschafft hat und dass sie heute hier ist. Sie berichtet von ihrer Route über Rumänien, Bulgarien, die Türkei, Syrien, entlang an den alten Bahngleisen Richtung Israel. Während sie spricht, donnern draußen am Himmel israelische Kampfjets durch die Luft. Ein militärisches Versprechen: Niemals wieder!
Jeden Tag kommt Frau Slak hier her, die beiden unterhalten sich ein wenig: über ihre mickrige Rente, über die Kinder, und dass sie auf keinen Fall denen zur Last fallen wollen. Sie reden über die Vergangenheit und sie reden über die Deutschen.
"Keiner soll mich fragen, wer waren diese Menschen im Lager. Das waren Bestien. Die haben überhaupt nicht an Gott geglaubt. Das waren keine Deutschen, ich kenne Deutschland: Beethoven, Goethe, Schiller. Kultur, Kultur, Musiker, Literatur."
Es wäre leichter, wenn Frau Szlak sagen würde, sie möchte nie wieder etwas mit den Deutschen zu tun haben, aber das Gegenteil ist der Fall. Nach dem Krieg hat sie sogar in Deutschland gelebt, anschließend in Kanada, bis sie im Alter nach Israel gezogen ist.
Bitternis schleicht sich in Frau Slazks Stimme. So viel hat sie durchgemacht, so einsam will sie jetzt nicht enden. Sie ist stolz auf ihre Kinder und freut sich, dass diese ein besseres Leben haben. Sie selbst aber wacht nachts auf, mit rasendem Herzen. Träumt von den Bestien im Lager. Sitzt dann eine Weile im Dunkeln. Wartet bis sich ihr Herzschlag beruhigt. Manchmal findet sie in den frühen Morgenstunden noch einmal Schlaf.
"Ich werde es nicht bedauern, diese Welt zu verlassen. Dass wir heute in so einer Welt leben mit dem Antisemitismus und Leuten die sagen, dass der Holocaust nur eine Erfindung war. Ich persönlich habe keine Zukunft mehr. Zukunft werde ich haben dort. Ich werde nicht die Hölle haben, die Hölle war hier."
Inzwischen hat es angefangen zu regnen. Leokadia Szlak geht in ihr Zimmer zurück. An der Außenseite der Tür klebt ein Kanada Sticker, er glitzert. Auf der Innenseite hängt ein Schreiben, das zwei Soldaten vorbei gebracht haben. In ihm danken sie Frau Slak für das Leid, das sie für den Staat Israel erlitten hat.
Leokadia Slak hätte gerne, dass sich dieser Dank in eine helle Wohnung umsetzen ließe. Sie setzt sich an ihren Tisch und zieht einen Bogen Papier aus einer Schublade.
"Ich habe geglaubt, ich werde hier Obhut finden und Geborgenheit, das habe ich nicht. Ich werde noch mal an die Regierung schreiben und sagen: Wake up! Look what I have done for you. Now it is time to help me."
Ein paar Wochen später bekommt Frau Szlak endlich eine andere Wohnung im Heim. Sie ist ein bisschen heller, freundlicher. So lange hat sie darum bitten und betteln müssen. Wieder einmal.
20 bis 30 Holocaustüberlebenden sterben pro Tag. Bald wird es niemanden mehr geben, der von dieser Zeit erzählen kann, von der Eli Wiesel einst sagte: "Wer nicht dabei war, kann nicht verstehen, wie es gewesen ist."
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