Sonja Friedmann-Wolf: "Im Roten Eis - Schicksalswege meiner Familie 1933-58"
Hrsg. von Reinhard Müller und Ingo Way
Nachwort von Ester Noter
Aufbau Verlag, Berlin 2013
460 Seiten, 24,99 Euro
Deutsch-jüdische Familie im "Jahrhundert der Extreme"
Von den beiden Totalitarismen des 20. Jahrhunderts erzählt Sonja Friedmann-Wolf im nun endlich vorliegenden Buch. Ein sehr persönlicher, erstaunlich humorvoller und poetisch verdichteter Zeitzeugenbericht über die alltägliche Unmenschlichkeit.
"Allen jenen, die nicht genug Leben hatten, um dies zu erzählen", widmete Alexander Solschenizyn 1973 sein Hauptwerk "Der Archipel GULAG". Als Sonja Friedmann-Wolf beginnt, die Schicksalswege ihrer Familie in Tel Aviv aufzuschreiben, ist sie 38 Jahre alt und hat noch die Kraft dazu, nach 25 Jahren eines kaum vorstellbaren Leidenswegs auf der Flucht vor der Barbarei des deutschen Faschismus in die des roten Terrors unter Stalin, ihre Geschichte zu erzählen. Die Geschichte ihrer Veröffentlichung als Buch ist selbst Teil des Horrors, von dem es handelt, erzählt ihre in Israel lebende Tochter, Ester Noter.
"Meine Mutter sprach dauernd darüber, in Russland, in Deutschland, in Israel. Ich kannte die Geschichten alle, aber es waren nur Geschichten. Und ich war ja noch ein Kind. Und als Kind ist man an der Geschichte der Eltern nicht besonders interessiert."
"Ach Mutter mit ihren alten Geschichten", Ester konnte es schon nicht mehr hören. Als sie längst eine eigene Familie und Kinder hat, erkrankt die Mutter an einer schmerzhaften Osteoporose und nimmt sich, 63-jährig, das Leben.
"Ich war verärgert. Es war, als würde meine Mutter mich ein weiteres Mal verlassen. Als ich zehn Monate alt war, hatte sie mich schon einmal verlassen und jetzt wieder, nicht nur mich, auch meine Familie und ihre Enkel."
Für die Tochter blieb die Mutter eine Fremde
Der Suizid war, da ist sich Ester Noter sicher, eine Spätfolge der traumatischen Erfahrungen ihrer Mutter in der Sowjetunion. Dort hatte sie schon einmal versucht, sich umzubringen. Als Ester noch ein Baby war, war ihre Mutter in Kasachstan zu vier Jahren Gefängnis verurteilt worden. Seither blieb die Mutter für die Tochter irgendwie ein Fremde. Nun, nach ihrem freigewählten Tod, ließ die Tochter das deutsche Buchmanuskript, das sie nicht lesen konnte, ins Englische übersetzen.
"Und dann las ich das Buch, und es wurde mir klar, dass niemand ihr für irgendetwas die Schuld geben, ihr etwas verübeln kann. Plötzlich verstand ich, was für ein furchtbares Leben sie hatte, und dass das ja ein System war, das Menschen unterdrückte, das meine Mutter und die ganze Familie jeden Tag ins Elend stürzte. Nach diesem Leben, dieser Ohmacht gegenüber dem System, habe ich ihr vergeben; ich bin ihr näher gekommen."
Nun liegt diese so wahre wie unglaubliche Geschichte einer deutsch-jüdischen Familie im "Jahrhundert der Extreme", endlich vor, "die", so Ingo Way, einer der Herausgeber, "von den beiden Totalitarismen des 20. Jahhunderts zerrieben wurde.”
Der erste, der Hauptteil über die Jahre 1933 bis 1941 ist aus der Perspektive des jungen Mädchens, der Heranwachsenden geschrieben.
“In unserem Haus wimmelte es nur so von Trotzkisten. Schon mindestens die Hälfte aller unserer Nachbarn waren verhaftet, und doch entdeckte das NKWD immer wieder neue Volksfeinde. Diese ‘käuflichen Agenten des Imperialismus‘ hatten sich aber nicht nur in unserer mausgrauen Mietskaserne eingenistet. Nein, sie befanden sich auf einmal überall, auch in der Regierung.“
Es ist die Hochzeit der Moskauer Prozesse, der stalinistischen Säuberungen. Millionen Genossen geraten in die stalinistische Blutmühle. Es waren 18 bis 20 Millionen Menschen. Unter den ersten Opfern waren die sogenannten Politemigranten: gläubige Kommunisten, die unter dem Druck des Faschismus in Europa ins vermeintliche Vaterland der Proletarierer emigriert waren.
In Moskau lebten viele von ihnen im genossenschaftlichen Wohnkomplex "Weltoktober", so auch die aus Berlin geflohene Arztfamilie Wolf. Als 14-Jährige erlebte Sonja, wie ihr Vater, Lothar Wolf, vom Inlandsgeheimdienst NKWD dort abgeholt wurde und nicht zurückkehrte. Erst sehr viel später erfuhr sie, dass er als angeblicher trotzkistischer Gestapospion zum Tode verurteilt und erschossen wurde. Die Mutter, überzeugt, dass ihr Mann noch lebt, lässt nichts unversucht, die Behörden von der Unschuld ihre Mannes zu überzeugen.
Die Autorin schildert eine dramatische Szene: Ihre Mutter und sie werden von Generalstaatsanwalt Andrej Wyschinkski empfangen. Die Mutter übergibt einen Brief von Lion Feuchtwanger, der sich darin für die Freilassung Lothar Wolfs einsetzt.
"'Interessant', stellte Wyschinski fest, 'hochinteressant. Das Schreiben stammt tatsächlich von Lion Feuchtwanger', und mit sadistischer Bedächtigkeit zerriss er den Brief samt Umschlag vor unseren Augen. Schneeflocken gleich glitten sie dahin, all unsere Hoffnungen, all unsere Zukunftsträume... Von Wyschinski sorgfältig manikürten Händen in kleine und immer kleinere Fetzen zerstümmelt, flogen sie in den Papierkorb.‘Wir erlauben niemandem, auch einem Lion Feuchtwanger nicht, sich in die internen Angelegenheiten unseres Landes einzumischen‘, folgte dann.“
Tatsächlich wurde der Brief nicht zerissen, er wurde in einem Moskauer Archiv gefunden. Offenbar gibt es fiktionalisierte literarische Passagen in diesem im Übrigen auf Tatsachen beruhenden Buch – Fiktionalisierungen, die den Zynismus der Macht, der Menschenverachtung verdeutlichen.
Als Sonja Wolf 17 Jahre alt ist, nimmt sich ihre Mutter, einst in Berlin eine berühmte kommunistische Ärztin, zermürbt vom stalinistischen Terror, das Leben. Sonja und ihr jüngerer Bruder Walter sind nun Waisen. Und die qualvolle Odyssee hört nicht auf: Nach dem Angriff Deutschlands auf die Sowjetunion 1941 werden die Geschwister Wolf mit Abertausenden Deutschstämmigen nach Kasachstan deportiert.
Hier beginnt der küzere zweite Teil über die 17 Jahre bis zur Ausreise aus der Sowjetunion. Sonja gerät nach Karaganda ins Karlag in der kasachischen Steppe, in das größte Zwangsarbeitlager der Sowjetunion, in dem die unvorstellbare Zahl von 800.000 Menschen inhaftiert war. Sie schuftet auf dem Bau, im Kolchos, hungert und wird zu Spitzeldiensten für den NKWD erpresst.
Nach Kriegsende ist sie noch zwei Jahre im Gefängnis, bis sie 1947 endlich nach Litauen, inzwischen unter sowjetischer Herrschaft, zu ihrem Mann Israel Friedmann und ihrer fast vierjährigen Tochter Ester entlassen wird.
Eine im Urteil unbestechliche Autorin
So subjektiv persönlich Sonja Friedmann-Wolf schreibt, lebensnah lebendig, der Blick der Autorin geht über ihre Familiengeschichte hinaus, richtet sich immer auch auf größere historische politische Zusammenhänge.
“Das für ganz Russland zu Kriegszeiten stets obligatorische Darben nahm gleich vom ersten Tage nach Einbruch der Deutschen seinen Anfang. Und die eingekreisten Leningrader waren vom ersten Tage ihrer Belagerung einem unvermeidlichen Hungertode preisgegeben. (...) Ich möchte die Aufmerksamkeit meiner Leser einem anderen Kapitel zulenken, einer der verbrecherischsten innenpolitischen Schachzüge der stalinistischen Sowjetregierung (...) Es ist hier die Rede von der totalen Liquidierung ganzer autonomer Republiken und von der (...) Massendeportation ihrer Einwohner.“
Hier schreibt eine im Urteil unbestechliche Autorin, ohne Ressentiment, entschieden antistalinistisch, aber nicht antikommunistisch oder gar antirussisch. Wohl deshalb konnte das Buch in den 60er- und 70er-Jahren nicht erscheinen, trotz der Fürsprache bedeutender Autoren und Journalisten wie Wolfgang Leonhardt oder Gerd Ruge bei renommierten deutschen Verlagen. Es passte nicht in die ideologischen Raster der Zeit.
“Im Roten Eis - Schicksalswege meiner Familie 1933-58" von Sonja Friedman-Wolf ist ein im deutschsprachigen Raum beispielloses, bis auf die letzte der 343 Seiten ergreifendes Buch, ein sehr persönlicher, immer selbstkritischer, oft erstaunlich humorvoller und poetisch verdichteter Zeitzeugenbericht über die alltägliche Unmenschlichkeit, die sozialen und politischen Verheerungen des stalinistiischen, des sowjetischen Totalitarismus - bei aller Grausamkeit des Gegenstandes ein Lesevergügen und Glück für alle an Zeitgeschichte Interessierten.