Zentralisierung als Grundübel

Das Buch "Probleme der Stadt" des österreichischen, 1994 verstorbenen Philosophen Leopold Kohr erweist sich heute als Klassiker der Stadtsoziologie. Der Träger des Alternativen Nobelpreises schlägt darin zum Beispiel kurze Wege vor, die den Gebrauch von Autos unnötig werden lassen. Möglichst kleine Einheiten sollten sich selbst verwalten.
Eine Kirche, ein Wirtshaus, ein Rathaus, mehr braucht man nicht für eine Stadt. Alles andere wächst dazu, mitunter schneller, als einem lieb ist. Der 1994 verstorbene Leopold Kohr gilt als Vater des Prinzips "small is beautiful", als Philosoph des richtigen Maßes. Deshalb ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass der Österreicher die Probleme der Stadt vor allem in ihrem wuchernden Wachstum sah. Heute erweist er sich als Klassiker der Stadtsoziologie, der aktuelle Debatten um mehr als drei Jahrzehnte vorweggenommen hat.

Fallstudie seiner Überlegungen ist die Hauptstadt San Juan der zu den USA gehörenden Insel Puerto Rico. Dabei leitet ihn die Überzeugung, dass neue Verkehrswege immer auch neuen Verkehr anziehen. Einleuchtend ist dabei Kohrs Philosophie einer "geschwindigkeitsbedingten Bevölkerungszunahme", die über jener der tatsächlichen Bevölkerungszunahme liege. Aus diesem Grund etwa hätten Theater über Notausgänge zu verfügen, weil sich im Brandfall die Menschen schneller bewegten und deshalb "mehr" seien.
Mehr Geschwindigkeit braucht mehr Raum für den Einzelnen, die Folge ist ein Bedürfnis nach Ausdehnung.

Kohr setzt das Prinzip der "Implosion" dagegen: Die Zentren wieder anziehend zu machen, sodass die Menschen gar keine Lust mehr hätten, anderswohin zu fahren. Voraussetzung dafür wäre aber, dass wieder alle für den Menschen notwendigen Einrichtungen in die Stadtmitte zurückkehrten: Bäcker, Schulen, Banken, Ärzte, Theater – und die Menschen selbst. Das geht soweit, dass er vorschlägt, Regierungsbeamte sollten in den Ministerien auch wohnen.

Zugrunde liegt die Überlegung der kurzen Wege, die den Gebrauch von Autos unnötig werden lassen. Straßen als Fußgängerzonen, Plätze als natürliche Knoten sind nach Kohr Ausdruck des "menschlichen Maßes". Dementsprechend redet er dem Prinzip der Subsidiarität das Wort: Möglichst kleine Einheiten sollten sich selbst verwalten, um weite Reisen zu Administrationszentren zu vermeiden. Zentralisierung ist eines der Grundübel.

Auch für die Eliminierung von Slums hat Kohr seinerzeit ein originelles Rezept entwickelt: Ein vermögender Privatmann sollte animiert werden, sich dort anzusiedeln und dürfte sich dafür "Herzog" nennen. Der Wohlstand seiner Wohnstätte würde auf die Nachbarn anregend wirken und sie zur Nachahmung anregen. Die Siedlungsstruktur der Slums, die Kohr aufgrund ihrer autolosen Beengtheit und Verwinkelung als "schön" bezeichnet, bliebe erhalten. Vorbild für eine solche Entwicklung ist dem Philosophen das Entstehen der Renaissancestädte in Italien. Auch Venedig habe sich so aus einer Armseligkeit im Sumpfland zur weltweit bekannten Einzigartigkeit entwickelt.

Manches in Leopold Kohrs Ausführungen mag aus heutiger Sicht fantastisch und praxisfremd klingen. Allerdings erstaunt, dass er die Visionen verkehrsberuhigter Städte oder eines Car-Sharing bereits in den 60er- und 70er-Jahren entwickelt hat, als von Umweltplaketten noch längst nicht die Rede war. Der 1909 in Oberndorf bei Salzburg geborene Philosoph und Träger des Alternativen Nobelpreises lehrte zu dieser Zeit in Puerto Rico und schrieb zum Thema Stadtplanung regelmäßig Kolumnen für Zeitungen der Insel. 1989 erschienen sie erstmals als Buch auf Englisch. Die verspätete deutschsprachige Veröffentlichung zeigt, dass die Gedanken von Leopold Kohr nichts an Aktualität verloren haben, aber auch, dass schon seit Jahrzehnten Städte unter falschen Vorzeichen geplant und erweitert werden: nicht mit dem Menschen im Mittelpunkt, sondern unter dem Leitbild ungebremsten Wachstums.

Rezensiert von Stefan May

Leopold Kohr: "Probleme der Stadt – Gedanken zur Stadt- und Verkehrsplanung",
Otto Müller Verlag Salzburg/Wien, 2008, 164 Seiten, 20 €