Zentrum Flucht und Vertreibung

Der schwierige Umgang mit einem Trauma der Deutschen

33:14 Minuten
Berlin, Kriegsende 1945: Ankunft eines Flüchtlingstrecks in Charlottenburg.
Ankunft eines Flüchtlingstrecks in Berlin im Jahr 1945: Ein Dreivierteljahrhundert später eröffnet nun das Dokumentationszentrum. © akg-images / NordicPhotos
Von Victoria Eglau |
Audio herunterladen
Flucht und Vertreibung: Das war das Nachkriegstrauma der Deutschen in Ost und West. Erst nach 1990 begann eine offene Auseinandersetzung damit. Nun eröffnet in Berlin das Zentrum, das mit der Geschichte aussöhnen soll. Ein schwieriges Unterfangen.
Berlin, Juni 2013. Bundeskanzlerin Angela Merkel legt den Grundstein für das Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung. "Für den Weg bis zu diesem Baubeginn für ein Dokumentationszentrum der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung im Deutschlandhaus waren wahrlich viele schwierige Schritte nötig", sagt sie.
"Auch ich war nicht jeden Tag sicher, ob es gelingt. Es ist gelungen. Es ist gelungen, aber manch einer musste auch über Schatten springen. Es ist gelungen, sich gemeinsam vom Leid der Geschichte berühren zu lassen und gemeinsam darüber nachzudenken, wie wir daran erinnern."
Ein Zeitzeuge erzählt: "Wir hatten etwa 20 bis minus 25 Grad, die Straßen waren verschneit, teilweise verweht, und wir mussten uns nun einreihen in die Schlange der Trecks, die unterwegs waren und konnten so am Tage 20 bis 25 Kilometer zurücklegen."
Rund 14 Millionen Deutsche wurden nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs aus ihrer Heimat in Ost- oder Südosteuropa vertrieben, wenn sie nicht schon vorher geflohen waren. Sie stammten aus den Ostgebieten des untergegangenen Deutschen Reiches, aus Polen, der Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien, dem Baltikum, der Sowjetunion und Jugoslawien. Bis zu zwei Millionen Deutsche überlebten Flucht und Vertreibung nicht.
"Nun lagen auch schon Tote am Straßenrand, ältere Menschen und Säuglinge. Es hatte wieder zu schneien begonnen. Und das Elend wurde größer. Pferde brachen immer häufiger zusammen, Säuglinge starben und wurden auf Planwagen geboren. Wir hörten ständig verzweifeltes Weinen. Und immer wieder diese eisige Kälte", heißt es im Bericht einer Augenzeugin.

Ein Zentrum mit langer Entstehungsgeschichte

Ein Dreivierteljahrhundert ist seitdem vergangen. Und mehr als zwei Jahrzehnte, nachdem der Bund der Vertriebenen die Initiative zur Errichtung einer Gedenkstätte ergriff, steht nun die Eröffnung bevor: Das Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung wird am Anhalter Bahnhof in Berlin eingeweiht. Gundula Bavendamm ist Direktorin der Bundesstiftung für das Dokumentationszentrum.
"Es ist sicher bedauerlich, dass dieses Haus erst im Jahr 2021 öffnet. Aber das ist die Summe aller Jahre, auch aller Kontroversen, auch aller Krisen, warum das nun so lange gedauert hat, wie es gedauert hat. Einige Menschen sind tatsächlich darüber verstorben und erleben das nicht mehr. Aber viele andere erleben es noch", sagt sie.
Gundula Bavendamm posiert  im neu errichteten Dokumentationszentrum der Vertriebenen-Stiftung am Anhalter Bahnhof in Berlin für ein Foto.
Gundula Bavendamm, Direktorin der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung, bedauert, dass das Zentrum jetzt erst öffnet.© imago / epd / Rolf Zoellner
"Ich freue mich über jeden Einzelnen, der das erlebt, und ich denke, der große Punkt ist der der öffentlichen Anerkennung, was dieses schwere Schicksal für diese Menschen bedeutet. Diese ganze Verlust-Dimension, die es eben gibt in Verbindung mit Flucht und Vertreibung: Es anzuerkennen, sich daran zu erinnern, auch den Kulturgutverlust, der damit zusammenhängt, in den Raum zu holen."

"Sichtbares Zeichen gegen Flucht und Vertreibung"

2008 hatte der Deutsche Bundestag beschlossen, ein "sichtbares Zeichen gegen Flucht und Vertreibung" zu setzen. Die Erwartungen an diesen Ort sind groß. Nicht nur die der noch lebenden Vertriebenen und ihrer Nachkommen, sondern auch die von geschichtsbewussten Menschen in Deutschland und unseren östlichen Nachbarländern.
Die große Frage ist: Wird es gelingen, die Vertreibung der Deutschen im Kontext von nationalsozialistischer Terrorherrschaft und Krieg angemessen darzustellen?
"Es geht nicht nur um das Schicksal von Deutschen, sondern wir wollen das einbetten in die Geschichte des 20. Jahrhunderts in Europa. Es soll klar sein, dass Ursache und Wirkung nicht durcheinandergebracht werden", sagt Wolfgang Thierse.
"Die deutsche Vertreibung gibt es nur, weil es vorher Hitler gegeben hat und seine Verbrechen und seine Vertreibung anderer Völker, einschließlich auch von Deutschen. Und da sind auch vorhandene Zweifel - glaube ich - wirklich beseitigt."
Die Zweifel, die der damalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse im Oktober 2010 ansprach, waren in den Jahren zuvor groß gewesen – sowohl in Deutschland als auch im Ausland. Die Befürchtung: Die deutschen Vertriebenen wollten sich in der Berliner Erinnerungsstätte als größte Opfer des Zweiten Weltkriegs darstellen.

Mahnende Töne aus Polen

"Deutschland soll endlich seine Gesellschaft darüber aufklären, dass nicht Flucht und Vertreibung vieler Menschen aus ihren angestammten Gebieten das größte Unglück des Zweiten Weltkriegs darstellt. Eine viel größere Tragödie war die Vertreibung aus dem Leben", sagt der polnische Historiker Tomasz Szarota im Jahr 2009, in Anspielung auf den Massenmord und andere Verbrechen Nazi-Deutschlands in Polen.
Szarota trat damals aus dem wissenschaftlichen Beirat der Stiftung aus. In Polen wurden die Pläne für ein Zentrum zur Erinnerung an die Vertreibung der Deutschen, ursprünglich ein Projekt des Bundes der Vertriebenen unter seiner Präsidentin Erika Steinbach, besonders misstrauisch beäugt.
Die ehemalige CDU-Politikerin Steinbach, die 1991 im Bundestag gegen die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze gestimmt hatte, wurde in Polen zu einer extremen Reizfigur – und zeitweise zu einer schweren Belastung für das Verhältnis beider Länder.
Ministerpräsident Donald Tusk erklärte im Februar 2009: "Diese Person ist für Polen nicht zu akzeptieren, und sie wird in den deutsch-polnischen Beziehungen immer für einen Missklang sorgen."

Konflikt um Erika Steinbach

Anfang 2010, nach langem Tauziehen zwischen der damaligen schwarz-gelben Bundesregierung und dem BdV, dem Bund der Vertriebenen, verzichtete Steinbach auf ihren Sitz im Beirat der Stiftung. Im Gegenzug wurde die Zahl der BdV-Mitglieder von drei auf sechs erhöht, zugleich wurde der Beirat vergrößert.
Der Konflikt um Erika Steinbach wirft ein Licht auf die überaus schwierige innerdeutsche Gemengelage. Jahrzehntelang waren sowohl in Westdeutschland als auch in der DDR die traumatischen Erfahrungen der Vertriebenen im politisch-gesellschaftlichen Bewusstsein weitgehend verdrängt worden.
In der Bundesrepublik führten die Vertriebenenverbände ihr Eigenleben, aber der Rest der Gesellschaft blieb davon ziemlich unberührt – auch von den Zurückweisungen, die die Vertriebenen in ihrer neuen Heimat anfangs erlebt hatten.
"Kalte Heimat" hieß der Titel eines Buches, das der Historiker Andreas Kossert dazu verfasste – nach der Wiedervereinigung. Denn erst nach 1990 wurde über dieses Kapitel der deutsch-deutschen Nachkriegsgeschichte offener gesprochen. Mit dem Zentrum sollte endlich ein nationaler Erinnerungsort entstehen.
Aber das war zugleich ein gewagtes Unterfangen, denn die Gefahr, dass die Konzentration auf die deutschen Flucht- und Vertreibungsgeschichten die historischen Zusammenhänge, die Erfahrungen der deutschen Nachbarn, ausblendete, lag auf der Hand.

Kontroversen um Ausrichtung des Zentrums

So gab es viele kontroverse Debatten um die Ausrichtung des Zentrums, Führungswechsel und weitere Austritte aus dem Beirat, bis 2017 schließlich der Stiftungsrat das Konzept für die Dauerausstellung beschloss. "Es war ein Meilenstein in der Geschichte dieser Stiftung, dass 2017 dieses Konzept einstimmig durch den Stiftungsrat gegangen ist", sagt Gundula Bavendamm.
"Gemäß Stiftungsauftrag ist der Schwerpunkt der Dauerausstellung Flucht und Vertreibung der Deutschen. Wir haben ein zweigeteiltes Dauerausstellungskonzept entwickelt, das dieses Thema aus zwei unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet. Im ersten Teil der Dauerausstellung kontextualisieren wir Flucht und Vertreibung der Deutschen im europäischen Kontext. Wir machen also ein etwas breiteres Panorama auf und skizzieren eine europäische Geschichte der Zwangsmigration. Da sind die Deutschen ein Beispiel unter vielen", erklärt die Stiftungsdirektorin und Historikerin.
An die Vertreibung und den Völkermord an den Armeniern solle ebenso erinnert werden wie an den griechisch-türkischen Bevölkerungsaustausch nach dem Ersten Weltkrieg und an die Vertreibungen im Zuge der Jugoslawien-Kriege. Aber auch Flucht, Vertreibung und Zwangsmigration außerhalb Europas würden thematisiert: etwa in Indien, Pakistan, Vietnam und – aktuell – in Myanmar.
Der zweite Teil der Dauerausstellung habe dann die Vertreibung der Deutschen und ihre Vorgeschichte als Schwerpunkt.
"Dort gehen wir den Zeitstrahl ab, von Anfang der 30er-Jahre auch noch mal bis heute und erzählen zunächst etwas natürlich über den NS-Staat und seine rassistische Ideologie, über den Zweiten Weltkrieg, die Besatzung der Deutschen in Europa, die Planungen der Alliierten zur Vertreibung der Deutschen", sagt Gundula Bavendamm.
"Und dann wird breit natürlich die Flucht der Deutschen geschildert, die wilde Vertreibung, die sogenannte geordnete Vertreibung nach den Potsdamer Beschlüssen im Sommer `45. Und der dritte Abschnitt ist dann noch der Integration der ungefähr 12,5 Millionen Deutschen gewidmet, die eben 1945 folgende in den vier Besatzungszonen ankommen und sich dann in die Nachkriegsgesellschaften in der Bundesrepublik und der DDR integrieren."

Die Ambivalenz des Gewaltverzichts

"Wir Heimatvertriebenen verzichten auf Rache und Vergeltung. Dieser Entschluss ist uns ernst und heilig in Gedenken an das unendliche Leid, welches im Besonderen das letzte Jahrzehnt über die Menschheit gebracht hat." So beginnt die Charta der deutschen Heimatvertriebenen, die am 5. August 1950 unterzeichnet wurde.
Frauen beim Kochen an einer offenen Feuerstelle in einem Flüchtlingskamp in Berlin, Juli 1945.
Anspruch auf Rückkehr in die alte Heimat? Flüchtlinge kochen 1945 in Berlin an einer offenen Feuerstelle. © akg-images
Seitdem wurde diese Erklärung von 30 westdeutschen Vertriebenenverbänden immer wieder feierlich verlesen. Eine durchaus ambivalente Erklärung, denn einerseits bedeutete sie einen Gewaltverzicht, andererseits untermauerte sie den Anspruch auf Rückkehr in die alte Heimat, die nun von anderen Menschen besiedelt war.
"Wir haben dieses Schicksal erlitten und erlebt. Daher fühlen wir uns berufen zu verlangen, dass das Recht auf die Heimat als eines der von Gott geschenkten Grundrechte der Menschheit anerkannt und verwirklicht wird", heißt es darin weiter.

Deutsche Vertriebene gerieten in "eine Randlage"

"Die politischen Interessenvertreter haben sehr stark am Revisionsanspruch der deutschen Grenzen und damit am Rückkehrrecht in die frühere Heimat deutlich festgehalten, zum Teil auch verbunden mit Entschädigungsanspruchsforderungen, et cetera", sagt Michael Schwartz.
So erklärt der Historiker vom Institut für Zeitgeschichte, warum seit den 60er-Jahren in der Bundesrepublik die Positionen der Vertriebenen-Verbände zunehmend hinterfragt wurden.
"Die öffentlich sichtbaren Vertriebenen-Organisationen gerieten immer stärker ins Abseits, wurden als ewig gestrig und vielleicht als politisch problematisch von vielen wahrgenommen. Das hat auch mit einem Generationenwechsel zu tun und mit einer Neubewertung natürlich der NS-Zeit durch die jüngere Generation, auch mit der Unterstützung einer Mehrheit der deutschen Bevölkerung für die neue Ostpolitik Willy Brandts, die ja auch ganz neuartige Versöhnungsschritte zu den osteuropäischen Nachbarn eingeleitet hat, namentlich zu Polen, aber auch zur Tschechoslowakei", erläutert er.
"Und all das führt natürlich dazu, dass die aufrechterhaltenen Positionen der Vertriebenen 1970 oder 1980 von einem wachsenden Teil der deutschen Gesellschaft dann als nicht mehr in die Zeit passend bewertet wurden. Das sind, glaube ich, diese Zusammenhänge im Zuge einer Entwicklung von den 60er- bis zu den 80er-Jahren, die tatsächlich zu einer Randlage der deutschen Vertriebenen nicht nur in der damaligen deutschen Politik, sondern auch im kollektiven Gedächtnis geführt haben."

Ein Projekt mit schwieriger Vorgeschichte

All das erklärt auch die schwierige Vorgeschichte des Dokumentationszentrums Flucht, Vertreibung, Versöhnung, die Widerstände und die höchst kontroversen Debatten über die Gestaltung und Gewichtung der Ausstellung. Ein Beispiel: Der auf den ersten Blick positive Ansatz, das Problem Flucht und Vertreibung international anzugehen und nicht ausschließlich die Vertreibung der Deutschen zu dokumentieren, birgt für manche Experten auch Risiken.
"Wenn es um so ein breites Panorama von Vertreibungen in Europa geht, wird ja meistens das Narrativ zugrunde gelegt, dass es der Nationalstaat ist oder der Nationalismus, dem mit seiner ausschließenden Kraft eben dieses Potenzial der Vertreibung innewohnt. Das ist aber auch irreführend", sagt Martin Schulze Wessel.
"Denn ohne den Zweiten Weltkrieg beispielsweise hätte es eine Vertreibung der Sudetendeutschen aus der Tschechoslowakei niemals gegeben. Also man darf nicht den Zweiten Weltkrieg gewissermaßen gedanklich überspringen und die Vertreibung der Sudetendeutschen als ein Ergebnis von tschechischem Nationalismus darstellen", betont der Historiker und Slawist von der Ludwig-Maximilians-Universität München, ehemaliger Vorsitzender des Deutschen Historikerverbandes.

Erst die Besatzungsherrschaft, dann die Vertreibungen

"Es gibt verschiedene Fehler, die man machen kann. Das eine ist tatsächlich eben, so ein breites Panorama europäischer Vertreibung zu bilden und dann zu zählen mit dem Befund, dass dann gerade die Deutschen am meisten numerisch vertrieben worden sind und somit die größte Opfergruppe bilden. So eine Betrachtungsweise, die man in der Vergangenheit schon einmal gesehen hat, blendet vollständig aus, dass es eben eine spezielle und auch einzigartige Vorgeschichte gibt, im Falle der Vertreibung der Deutschen", erläutert Martin Schulze Wessel.
"Der zweite Fehler ist natürlich, dass es nicht sein kann, dass wenn man sich auf den Zweiten Weltkrieg konzentriert, neben den Juden die Deutschen als das Hauptopfer des Krieges erscheinen. Man muss die Besatzungsherrschaft sehen und eben sehen, dass Polen, Ukrainer, Belarussen, Russen, Griechen, Serben und viele andere Gruppen eben Opfer des Zweiten Weltkriegs geworden sind, und zwar in sehr hohem Maße."

Zwangsmigrationen immer im Kontext sehen

Der polnische Historiker Krzysztof Ruchniewicz betont: "Wir sehen diesen Prozess, ich nenne das zunächst allgemein Zwangsmigration der Deutschen, im Kontext des Krieges. Dieses bekannte Schema Ursache-Wirkung spielt für uns Historiker eine ganz wichtige Rolle. Und wenn ich dieses Schema nicht in der Ausstellung sehe, dass jetzt der Vertreibung der Deutschen sehr viel Platz eingeräumt wird und dieses Thema zum Schwerpunkt wird, dann finde ich das ein bisschen problematisch", erklärt er.
"Fest steht, dass man alle diese Ereignisse des 20. Jahrhunderts, die mit Zwangsmigrationen zu tun hatten, immer im Kontext sehen muss. Und das wünsche ich mir von dieser Ausstellung."
Krzysztof Ruchniewicz, Direktor des Willy-Brandt-Zentrums für Deutschschland- und Europastudien der Universität Breslau, posiert für ein Foto.
"Das Schema Ursache-Wirkung spielt für uns Historiker eine ganz wichtige Rolle", sagt Krzysztof Ruchniewicz.© picture alliance / dpa / Lukasz Wolak / Zentrum für Deutschland- und Europastudien
Ruchniewicz ist an der Universität Wrocław Direktor des Willy-Brandt-Zentrums für Deutschland- und Europastudien. Nach seiner Ansicht sollte es in dem Berliner Dokumentationszentrum neben der Vertreibung der Deutschen auch andere Schwerpunkte geben.
Zum Beispiel: "Dass mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges im September 1939 auch viele polnische Staatsbürger gezwungen sind, ihre Häuser zu verlassen. Dass wir auch im Krieg mit mehreren solchen Phänomenen zu tun haben, die ausgelöst worden sind jetzt von den deutschen Nationalsozialisten oder von den Sowjets, dass Deportationen zum Alltag damals auch gehörten", erläutert der Historiker.
"Ich sehe hier auch vielleicht von Vorteil, dass auch das deutsche Publikum etwas erfährt, was sie bisher wahrscheinlich nicht wahrgenommen hat: Dass vor der Vertreibung der Deutschen auch andere Vertreibungen gerade in Ostmitteleuropa stattgefunden haben, die man auch stärker berücksichtigen muss und sich damit auseinandersetzen muss."
Die Sorge, dass nicht deutlich genug der von Nazi-Deutschland angezettelte Zweite Weltkrieg als Ursache von Flucht und Vertreibung – am Ende auch der Deutschen – dargestellt wird: Diese Sorge hat das Dokumentationszentrum von Anfang an begleitet.

Unauflöslicher Zusammenhang mit der NS-Diktatur

Stiftungsdirektorin Gundula Bavendamm hält sie für unbegründet: "Diese feste, unauflösliche Kontextualisierung zwischen der NS-Zeit und Flucht und Vertreibung der Deutschen steht bereits im Stiftungsgesetz von 2008. Vielleicht ist das in manchen Zeiten, als es diese Kontroversen gab, diesen Streit, diese Erregung um dieses Projekt, etwas in den Hintergrund getreten", sagt sie.
"Uns war ganz besonders wichtig, dass der Zusammenhang zwischen der NS-Zeit, und dazu gehört die rassistische Ideologie des NS-Staates im Dritten Reich mit all den schrecklichen Folgen insbesondere der Verfolgung, Diskriminierung und Vertreibung der Juden, dazu gehört der Zweite Weltkrieg, den Deutschland angefangen hat, und dazu gehört auch die Besatzungsherrschaft der Deutschen in Europa – das alles muss dargestellt werden, wird auch dargestellt", erklärt sie.
"Und uns war ganz besonders wichtig, dass es in einem Raum dargestellt wird. Dass es auch räumlich erfahrbar ist für den Besucher: Es gehört zusammen."
Der Historiker Krzysztof Ruchniewicz hält es darüber hinaus für wichtig, dass auch die von der Sowjetunion verursachten Vertreibungen ausführlich dokumentiert werden.
"Mich würde interessieren, ob zum Beispiel auch die Deportationen der Polen oder aber auch anderer Nationen ins Innere der Sowjetunion dargestellt werden, nach der Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Paktes am 23. August 1939, wo es dann zur Aufteilung dieses Teiles Europas gekommen ist", sagt er.
"Wenn wir uns mit dem Thema auseinandersetzen, dann erwarten wir, dass wir, von Phänomenen sprechen, von Zusammenhängen. Und dass man nicht jetzt versucht zu sagen, das interessiert uns, das andere interessiert uns nicht. Bin jetzt gespannt, wie man jetzt diese Fragen gewichtet hat."

Die Westverschiebung Polens

Stiftungsdirektorin Gundula Bavendamm betont: Alle Vertreibungen, denen die polnische Bevölkerung zum Opfer fiel, würden in der Dauerausstellung dokumentiert. Und auch die Umsiedlung von Menschen, deren Heimat im Osten Polens an die Sowjetunion fiel, ab 1945.
"In dem Moment, wo die Deutschen zum Beispiel aus Ostpreußen vertrieben werden, kommen eben Menschen aus Ost-Polen durch die Westverschiebung Polens in diese Gebiete, die die Polen eben wiedergewonnene Gebiete nennen", erklärt sie.
"Und diese Wechselwirkung, die teilweise binnen Tagen, binnen weniger Wochen stattfindet, dieser Austausch der Bevölkerung, die Deutschen, die weggebracht werden, Menschen aus Ostpolen oder der Ukraine, die dort hinkommen, auch das ist Thema in der Dauerausstellung und wird teilweise auch wirklich an einzelnen Objekten sehr augenfällig."
Trotzdem ist es ein Spagat, in Deutschland einen nationalen Ort der Erinnerung an das Schicksal der "Heimatvertriebenen" zu schaffen – und zugleich Flucht und Vertreibung international dokumentieren zu wollen.

"Das ist jetzt kein Schluss der Debatte"

"Der Versuch, diese deutsche Geschichte der deutschen Flucht und Vertreibung mit dem internationalen Kontext zu verbinden und darüber hinaus das Thema der Flucht und Vertreibung als solches zu thematisieren ist, ist nicht so einfach", meint der tschechische Historiker Ondřej Matějka vom Institut für das Studium totalitärer Regime in Prag. Er gehört dem wissenschaftlichen Beirat der Bundesstiftung an.
"Das würde ich jetzt als ein tschechischer Historiker sagen: Die Deutschen haben auch recht, ihre Geschichte über diese Ereignisse zu erzählen. Ich glaube, dass das Recht auf diese Erzählung hier verwirklicht wird, ich glaube, sinnvoll und angemessen", sagt er.
"Diese Idee, die deutsche Erfahrung mit der Erfahrung der Flucht und Vertreibung an sich zu verbinden, ist eine kühne Idee. Die sinnvoll jetzt in einem Museum oder in einer Dauerausstellung darzustellen, wird schwierig. Und vielleicht wird das nicht gelingen. Das kann man jetzt noch nicht sagen. Da müssen wir schauen, wie die Besucher darauf reagieren, und zwar nicht nur aus Deutschland, sondern auch aus anderen Ländern. Und dann kann man das immer wieder dann besser machen. Das ist jetzt kein Schluss der Debatte."

Wie die Shoah einbeziehen?

Wird man den anderen Vertriebenen-Gruppen gerecht, wenn man ihre Geschichte und Erfahrungen nur streift, weil der Schwerpunkt der Ausstellung auf den Deutschen liegt? Eine noch weiterreichende Frage ist: Wie kann, wie soll die Shoah, der Massenmord an den Juden, in die Ausstellung einbezogen werden?
War doch die Vertreibung der Juden aus ihren europäischen Heimatorten, die Einweisung in Ghettos, eine Vorstufe zum viel größeren Verbrechen des Genozids. Der Münchener Geschichtswissenschaftler Martin Schulze Wessel machte 2010 gemeinsam anderen Historikerinnen und Historikern einen Vorschlag.
Martin Schulze Wessel, Vorsitzender des Historikerverbands, beim 51. Deutscher Historikertag
Den ersten Raum der Ausstellung der Shoah widmen: ein Vorschlag von Martin Schulze Wessel und anderen Historikerinnen und Historikern.© dpa/picture alliance/Daniel Reinhardt
"Das könnte etwa geschehen, indem man den ersten Raum dieser Ausstellung der Shoah widmet. Also ein Raum, durch den alle durchgehen müssen, bevor sie den freieren Raum erreichen, in dem Vertreibungen dargestellt werden. Das würde auf eine museumsdidaktische Art und Weise deutlich machen, wie die Verhältnisse sind. Also, Vertreibung ist furchtbares Leid gewesen, und es sind ja auch Massaker damit verbunden gewesen", erklärt er.
"Aber der große Unterschied zur Shoah ist, dass in der Shoah ganze Familien ausgelöscht worden sind, auch familiäre Gedächtnisse damit zu Ende gegangen sind. Es gibt einen systematischen Unterschied zwischen der Shoah und den Vertreibungen, unter denen die Deutschen litten. Und das sage ich wirklich, ohne diese Vertreibungen in dem Furchtbaren, was jede Vertreibung bedeutet, relativieren zu wollen."
"Ich hoffe, dass das klar wird, dass die jüdische Geschichte zum Beispiel auch mit Vertreibungen, die letztlich auch vor dem Zweiten Weltkrieg angefangen sind und dann zum Holocaust geführt haben – ich hoffe, dass das auch sichtbar wird", sagt Ondřej Matějka.

"Vielfalt von erinnerungspolitischen Möglichkeiten"

Sein Kollege Michael Schwartz vom Institut für Zeitgeschichte, hebt hervor, dass sich das Dokumentationszentrum, dessen Hauptthema Flucht und Vertreibung ist, gut vernetzen sollte mit Institutionen, die an die NS-Verbrechen erinnern.
"Allein schon die Berliner Erinnerungslandschaft bietet unheimlich viele Anknüpfungspunkte dafür. Die Topographie des Terrors liegt ja in Steinwurfweite. Demnächst werden wir vielleicht am Anhalter Bahnhof auch noch dieses Exilmuseum zur Erinnerung an Menschen, die aus Hitler-Deutschland ins Exil flüchten mussten, haben", sagt Michael Schwartz.
"Wir haben eine unheimliche Vielfalt von erinnerungspolitischen Möglichkeiten, in die das Zentrum sich auch aktiv einbringen sollte, um sich auch immer wieder in bestimmte Kontexte zu begeben und dadurch auch befragen zu lassen. Das lässt sich natürlich auch auf internationaler Kooperationsebene machen, gerade mit Blickrichtung Polen, auch mit Blick auf einige andere Nachbarländer und vielleicht auch mit Blick auf aktuelle Geschehnisse."
Im Namen des Berliner Dokumentationszentrums, das in wenigen Tagen seine Tore öffnen wird, steht ein großes, ein ehrgeiziges Ziel: Versöhnung.
"Der Versöhnungsbegriff ist uns nun mitgegeben. Ich persönlich finde, dass das ein sehr schönes deutsches Wort ist, über das man viel auch reflektieren kann. Was das eigentlich ist, wer sich da mit wem versöhnt, das ist ja deutungsoffen", sagt Gundula Bavendamm.
"Ich weiß gar nicht, ob man das in dem Sinne als Ziel betrachten sollte. Also die Grundlage auf diesem Weg, der vielleicht dahin führen kann, ist sicherlich erst einmal generell diese Haltung der Stiftung, eine ausgewogene, differenzierte Darstellung anzubieten."

"Ich bin sehr vorsichtig mit dem Begriff Versöhnung"

"Also ich bin sehr vorsichtig mit dem Begriff Versöhnung. Ich gehöre der Generation an, die sich nicht versöhnen kann. Versöhnen dürfen sich nur diejenigen, die jetzt der sogenannten Erlebnisgeneration angehören, die selber von dem Verbrechen des Zweiten Weltkriegs getroffen worden sind", sagt Krzysztof Ruchniewicz.
"Ich würde mir wünschen, dass diese Stiftung für bessere Verständigung steht. Denn dieser Begriff Versöhnung kann gerade für die junge Generation missverstanden werden – also, was eigentlich gemeint ist. Wer soll sich versöhnen mit wem heute? In Europa brauchen wir bessere Verständigung, vertieften Dialog."
Historiker Krzysztof Ruchniewicz, der in Wrocław, früher Breslau, lebt und arbeitet, weiß aus eigenem Erleben, dass die Brücken über die Gräben der Vergangenheit besonders auf der zwischenmenschlichen Ebene gebaut werden. Die Brückenbauer gehören oft den jüngeren Generationen an, vielfach aber auch Familien von Vertriebenen.

Viele Junge bei den Sudetendeutschen Tagen

"Bei den Sudetendeutschen Tagen haben wir inzwischen Hunderte, Tausende von tschechischen Teilnehmern, meist junge. Wir waren in Regensburg in Grenznähe, da kommen viele Leute rüber, weil sie in unserer Kultur und unserer Geschichte die eigene Kultur und die eigene Geschichte widergespiegelt sehen", berichtet Bernd Posselt.
Der Sprecher der Sudetendeutschen Landsmannschaft ist Sohn von Vertriebenen und CSU-Politiker. Er setzt sich seit Jahrzehnten für den deutsch-tschechischen Dialog ein und hat in diesem Sinne auch auf eine Öffnung der Sudetendeutschen Landsmannschaft hingearbeitet.
"Die Mehrheit der Sudetendeutschen ist ganz klar auf Europa und auf Verständigung und Aussöhnung ausgerichtet. Aber natürlich war es für die Erlebnisgeneration, die selbst noch Schlimmes bei der Vertreibung erlebt hatte, zum Teil vielleicht schwerer, mit dem Thema umzugehen", sagt er.
"Aber ich möchte trotzdem sagen, es ist kein reiner Generationskonflikt, wie man es oft gern darstellt. Es gibt wunderbare, uralte Leute, die Schreckliches erlebt haben, aber an der Spitze der Versöhnungsbewegung stehen. Und auf der anderen Seite gibt es junge Idioten. Ja, es gibt in jeder Generation auch Idioten und Nationalisten. Und von daher glaube ich auch, man muss zueinanderfinden. Das ist ein aktiver Prozess, auch bei den jüngeren Generationen."

Wandel im Bewusstsein der Tschechen

"In Tschechien ist es inzwischen wirklich quasi normal, anzuerkennen, dass die vertriebenen Sudetendeutschen mitunter auch Opfer sind. Die Debatte hier ist inzwischen sehr differenziert. Es würde jetzt niemand sagen, dass die alleinige Verantwortung für die Vertreibung die Tschechen tragen, also der Kontext des Zweiten Weltkriegs ist sehr, sehr eindeutig", sagt Ondřej Matějka.
"Aber es ist einfach sehr präsent auch das Bewusstsein über den eigenen Teil der Verantwortung an dem ganzen Vorgehen. Sodass also die Mehrheit der tschechischen Bevölkerung der Meinung ist, dass die Vertreibung als solche auch ungerecht war."
So beschreibt der Historiker Ondřej Matějka den Wandel, der in den vergangenen Jahrzehnten in Tschechien in Bezug auf die Beurteilung der Vertreibung der Sudetendeutschen stattgefunden hat. Als Beispiel nennt er das Gedenken an den Todesmarsch, bei dem im Mai 1945 wahrscheinlich mehr als 5000 Deutsche nach ihrer Vertreibung aus der Stadt Brünn starben.
Die heutigen Erinnerungsmärsche – als versöhnliches Symbol, nicht aus Brünn heraus, sondern zurück in die Stadt – wurden von jungen Tschechen initiiert und werden von den lokalen Behörden unterstützt.

Feindbilder überdauern Jahrzehnte

Wie Bernd Posselt sagt auch Ondřej Matějka: Versöhnung ist ein aktiver Prozess.
"Das ist nicht vom Himmel gefallen. Als Historiker kann ich sagen, dass es so in der Geschichte nicht passiert. Wenn man nicht gezielt auf eine deutsch-tschechische oder sudetendeutsch-tschechische Versöhnung gearbeitet hätte, wäre die Spannung immer noch da. Von alleine wird das nicht verschwinden", sagt er.
"Die Übertragung von Feindbildern überdauert Jahrzehnte oder Jahrhunderte sogar. Von daher, ich muss sagen, dass das wirklich eine Leistung ist von vielen, sowohl in Tschechien als auch in Deutschland."
Wenn praktische Versöhnung, oder zumindest Begegnung und Austausch, auf lokaler Ebene möglich sind, wie unzählige Beispiele etwa aus Tschechien und Polen belegen – was kann dann ein nationales Dokumentationszentrum leisten?
Junge Leuten rennen in Berlin am Deutschlandhaus vorbei.
Hinweis für das neue Dokumentationszentrum auf einem Bauzaun: Versöhnung ist ein aktiver Prozess, betonen Bernd Posselt und Ondřej Matějka.© picture alliance / dpa / Wolfram Steinberg
Bernd Posselt von der Sudetendeutschen Landsmannschaft meint: "Sehr stark im Sinne eines ‚Nie wieder‘ darauf hinzuarbeiten, dass Vertreibung nicht weiter ein Mittel der Politik sein soll, oder dass Menschen, nur weil sie eine bestimmte Sprache sprechen, oder einer bestimmten Herkunft sind, kollektiv entrechtet, verfolgt, oft sogar auch ermordet oder eben vertrieben werden", sagt er.
"Und das ist die Grundidee, die dieses Zentrum ausdrücken soll. Das ist nicht bloß irgendein Vertriebenen-Mahnmal oder Museum, sondern das soll ausdrücken, dass niemand, weil er anders ist als andere, mehr Gewalt erleiden darf."

Polyfonie der Erinnerung in Europa

"Wir haben jetzt ein Museum in Berlin und müssen irgendwie damit leben. Wir müssen uns damit auseinandersetzen", sagt Krzysztof Ruchniewicz. Der Historiker von der Universität Breslau klingt skeptisch, ist aber gespannt auf das Berliner Zentrum. Für ihn ist die bewusste Auseinandersetzung mit dem Thema Vertreibungen wichtig.
"Dass man über dieses Thema diskutiert als Aufforderung, sich auch heute mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Wir sprechen nicht von der Kakofonie der Stimmen, sondern von der Polyfonie. Also das heißt, wir haben es in Europa mit unterschiedlichen Erinnerungen, mit unterschiedlichen Geschichten auch zu tun. Und es ist selbstverständlich nicht einfach, alle diese jetzt unter einen Hut zu haben", sagt er.
"Aber wichtiger ist für mich, die Spezifika von den jeweiligen Kulturen kennenzulernen. Und deswegen ist es für mich nicht problematisch, dass es in Deutschland vielleicht dieses Museum geben wird, aber auch in einem anderen Staat ein anderes Museum. Denn da sind wahrscheinlich ganz andere Schwerpunkte, ganz andere Themen vielleicht gewichtet … Und ich glaube, das macht dieses Europa heute aus, dieses Europa von Vielfalt."
Für den Historiker Michael Schwartz ist wichtig: "Man sollte ja den Namen Flucht, Vertreibung, Versöhnung jetzt auch nicht als ‚Friede, Freude, Eierkuchen‘-Schlusspunkt begreifen. Gerade der Versöhnungsbegriff ist ja auch ein sehr komplizierter und vielleicht nie so richtig zum Abschluss zu bringen. Aber es geht ja letzten Endes auch darum, wie im damaligen Regierungsbeschluss zur Schaffung dieses Zentrums ausgedrückt wurde, heutige Vertreibungen politisch zu ächten", sagt er.
"Das heißt, im Grunde hat dieses Zentrum neben der historiografischen auch eine gegenwartsbezogene politische Aufgabe. Aus der Vergangenheit heraus lernend auch heute gegen ähnliche Sachverhalte aktiv Stellung zu nehmen und Menschen zu befähigen, dass sie das auch tun können."

Autorin und Sprecherin: Victoria Eglau
Regie: Guiseppe Maio
Technik: Ralf Perz
Redaktion: Winfried Sträter

Mehr zum Thema