Zerrbilder. Die fragwürdigen Retuschen am Image des Alters

Von Angela Spahr |
"Nicht alt zu werden: Das geht nicht, ist man ein Mensch." So lautet eine Zeile des kürzlich entdeckten Gedichts der Sappho. Die viel gerühmte Dichterin, die im siebten Jahrhundert vor Christi Geburt auf Lesbos lebte, wählt darin einen wehmütigen Ton. Sie schickt die jungen Mädchen zum Tanz, während sie selbst, über das Versagen der eigenen Beine klagend, zurückbleibt. Die zarte Haut und das schwarze Haar sind dahin, aber dies sei nur natürlich, stellt Sappho resigniert fest und erinnert an die – ihrem Publikum geläufige - Geschichte des Tithonos.
Homer erzählt von der Liebe des trojanischen Prinzen und der Eos, Göttin der Morgenröte. Der Vollkommenheit dieser Verbindung standen nur ihre irdischen Grenzen im Weg. Zeus aber hatte Mitleid mit der liebenden Göttin und gewährte Tithonos die Unsterblichkeit. Doch nach Jahren olympischen Glücks bemerkte Eos eine Veränderung ihres Gefährten und erkannte zu spät ihren Fehler: Sie hatte vergessen, auch ewige Jugend für ihn zu wünschen.

Der Geliebte der Morgenröte starb nicht, aber vergreiste, verfiel, wie Menschen eben verfallen, er schrumpfte zusammen, verlor alle Kraft und verwandelte sich in einen verhutzelten, triefäugigen Zwerg. Die anderen Götter amüsierte das Schauspiel eine Zeit lang, schadenfroh lachten sie über Eos und ihren absonderlichen Begleiter. Doch bald wurde Tithonos zum Ärgernis für die Olympier: abstoßend, ständig greinend – eine Plage. Schließlich musste Zeus handeln, und er verwandelte den Unsterblichen in eine Zikade, deren Zirpen seither die Morgenröte begleitet.

Uns Heutigen – den Bewohnern der ersten Welt – ergeht es ein wenig wie Tithonos, ist es Wissenschaft und Technik doch gelungen, den Tod immer weiter hinaus zu schieben, ohne allerdings die Plagen des Älterwerdens besiegt zu haben. Die Medizin vermag zwar etliche Übel zu lindern, doch nicht die Jugend zu erhalten. Die steigende Lebenserwartung bedeutet somit einen zweifelhaften Gewinn: verlängert sich doch gerade der Lebensabschnitt, der von Beschwerlichkeiten gekennzeichnet ist.

"Alter verfluchtes", steht bei Homer, "du Ohnmacht, du Grausen sogar für die Götter!" Diese defätistische Einstellung ist heute nicht mehr politisch korrekt. Setzt sich doch eine Auffassung durch, die da lautet, nicht das Alter selbst sei unser Problem, sondern sein schlechtes Image. Der Jugendwahn wird verantwortlich gemacht für das negative Bild des älteren Menschen. Auch die Tatsache, dass die Gesellschaft keinerlei Verwendung für Betagte hat, wird als Problem erkannt. So herrscht allseits Einigkeit: das Lebensende muss wieder an Ansehen gewinnen.

Von den unschönen Begleiterscheinungen des Alterns ist dabei wenig die Rede. Die Reklame fürs Alter verschweigt tunlichst Schmerz, Verfall, Krankheit und Leid, sie passen nicht ins erwünschte Bild des rüstigen Rentners, nicht für die vielen Industrien, die ihre lebensverlängernden Produkte verkaufen wollen, nicht für die Politiker, die ein unbequemes Problem klein reden möchten und nicht für uns, die wir uns ein langes, gutes Leben wünschen.

Die Retusche am Bild des Alters produziert jedoch ein Zerrbild und Phantom. Denn die knackigen Mittsechziger, die auf Mountainbikes die Toskana unsicher machen, bilden die monetär und körperlich privilegierte Ausnahme. Die eigene Oma im Fernsehsessel wirkt dagegen wie Tithonos im Olymp, irgendwie fehl am Platz. Das Phantom des unbeschwerten Alters kaschiert den leiblichen Verfallsprozess, der nach wie vor den letzten Lebensabschnitt ausmacht. Waren Krankheit und Tod in früheren Gesellschaften allgegenwärtig, werden sie heute immer mehr verdrängt.

Mit dem eigenen Verfall klarzukommen, stellt aber die schwierige Aufgabe der "gewonnenen Jahre" dar. Vermutlich haben Organe eine gewisse Haltbarkeit, die sich evolutionär herausgebildet hat. Ein Gehirn, das tadellos über 80 Jahre funktioniert, Beine, die über denselben Zeitraum schmerzfrei tragen, waren bislang aufgrund kürzerer Lebensspannen nicht notwendig. Das Alter kann kein Ort der ungetrübten Freude sein. Dies zeigt sich schon daran, dass der Imagewechsel bei den Alten selbst am wenigsten verfängt. Sie ziehen in jedem Fall die Gesellschaft Jüngerer vor: Alte Leute mögen keine alten Leute.


Angela Spahr, 1963 in Berlin geboren, Studium der Philosophie und Literaturwissenschaften. Lehraufträge an FU und TU Berlin, sowie Publikationen und Projekte in den Bereichen Philosophie, Kulturwissenschaften und Medientheorie. 2000 erschien in zweiter Auflage bei UTB Kloock/Spahr: "Medientheorien. Eine Einführung".