Zersplitterung der Gesellschaft

Lob der Ambivalenz

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Graphische Darstellung einer Menschengruppe.
Die explizite Identitätspolitik psychischer, kultureller, sozialer oder geschlechtlicher Bedürfnisse führe zu einer weitgehend fragmentierten Gesellschaft, so Schüle. © imago/Ikon Images
Ein Standpunkt von Christian Schüle · 26.02.2019
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Die Politische Landschaft ist unübersichtlicher geworden. Früher standen sich Links und Rechts gegenüber, heute gibt es viele kleine und laute Gruppen. Der Schrifsteller Christian Schüle sieht darin die Gefahr, dass die gemeinsame Sache verloren geht.
Eine verhängnisvolle Idee des Politischen geistert durch den Raum und besetzt mehr und mehr Köpfe: Identität. Die explizite Identitätspolitik psychischer, kultureller, sozialer oder geschlechtlicher Bedürfnisse und Anliegen führt zu einer weitgehend fragmentierten Gesellschaft, der peu à peu die Idee des Allgemeinen, der res publica, abhanden zu kommen scheint.
Wir haben es mit einer ständigen Ausweitung gruppenspezifischer Ansprüche an den Staat und die Gesellschaft zu tun, woraus eine Zersplitterung in Parzellen und Reviere, Communities und Lobbies folgt, die ihre jeweiligen Interessen zum Maß der Dinge erheben und sich – als Opfer struktureller Benachteiligung – gegebenenfalls beleidigt, gekränkt und in ihrem Selbstwert verletzt fühlen.

Aufwertungsbedürftige Minderheiten und Schutzräume

Geschlechter-Präferenzen, religiöse Gefühle, nationale Abstammung und lebensweltliche Befindlichkeiten sind für sich genommen aller Ehren wert, und jede und jeder hat das unbedingte Recht, nach ihrer und seiner Fasson glücklich zu werden. Aber wenn jede soziale Gruppe ihre Bedürfnisse moralisch verabsolutiert, um – durch rhetorisches Framing – die höchst erregbare öffentliche Wahrnehmung auf sich zu lenken, führt das im Furor von Empörungs-Hysterie und Shitstorm-Schwachsinn zunehmend in eine unübersichtliche Kampfzone. Vor lauter aufwertungsbedürftigen Minderheiten lässt sich schließlich gar nicht mehr von der Mehrheit sprechen. Bald könnte es, überspitzt gesagt, eine Multigender-, Polyamorien-, Bioveganer-, Animisten- und National-Anarchistenquote für Politik und Wirtschaft geben, weil jeder im öffentlichen Raum Geltung haben will.
Letztlich geht es dabei um zahllose in sich geschlossene Schutzräume, die weder ineinander übersetzbar noch anschlussfähig sind und vor allem Homogenität fördern, die – mit ihrer Neigung zu fundamentalistischer Selbst-Offenbarung – in einer offenen Gesellschaft ja ausdrücklich verhindert werden soll.

Jede gestopfte Gerechtigkeitslücke wird neue aufreißen

Identitätspolitik ist per se spalterisch und verstößt in einer ohnehin von Spaltungen aller Art zerklüfteten Gemeinschaft gegen das Grundprinzip einer liberalen Demokratie: die Bewältigung von Ambivalenz durch Prozesse.
Pluralismus produziert permanent Widersprüche und Mehrdeutigkeiten – das eine gilt so wenig oder viel wie das andere. Wenn die Ausdifferenzierung der Lebensentwürfe weiter voranschreitet, wird es bald mehr als 60 kulturell codierte Geschlechter und durch zunehmende Migration weit mehr als 200 Nationalitäten auf engem Raum geben. Dann wird es permanent zu Konflikten zwischen widerstreitenden Wert- und Normvorstellungen kommen, dann wird jede gestopfte Gerechtigkeitslücke für die eine Gruppe mindestens eine neue für andere Gruppen aufreißen. Und dann wird der diffuse Begriff der Würde ständig neue Forderungen nach dem spezifischen Respekt für sich aufs neue benachteiligt fühlende Minoritäten hervorbringen.

Mit Neid und Ressentiment leben lernen

In einer superdiversen Gesellschaft – und auf eine solche wird es hinaus laufen – wird der einzelne Bürger nicht umhin kommen, Kränkungen zu ertragen und mit Neid und Ressentiment leben zu lernen. Wem es nicht nur in wohlfeilen Sonntagsreden, sondern aus Einsicht in die Notwendigkeit um gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalt in Zeiten sozialer Isolierung und digitaler Echokammern geht, der muss die Bewältigung der Ambivalenzen zur Kulturtechnik erklären, deren Beherrschung jeder Einzelne künftig einzuüben hat. Eine auf Dauer garantierte Ordnung der Freiheit für alle findet nur dann allseitige Zustimmung, wenn sie nicht der Durchsetzung besonderer moralischer, ethischer oder religiöser Vorstellungen und Interessen dient, sondern ausschließlich eine Ordnung der individuellen Handlungsfreiheit ist.
Ambivalenzbewältigung wird also eine neue Schule der sozialen Ethik erfordern. Man sollte schon jetzt die Lehrpläne erweitern und die besten Pädagogen suchen, sonst brauchen wir in Kürze ein Heer von Therapeuten.

Christian Schüle, 48, hat in München und Wien Philosophie, Soziologie und Politische Wissenschaft studiert, war Redakteur der "Zeit" und lebt als freier Essayist, Schriftsteller und Publizist in Hamburg. Er hat mehrere Bücher veröffentlicht, darunter den Roman "Das Ende unserer Tage" (Klett-Cotta) und zuletzt die Essays "Heimat. Ein Phantomschmerz" (Droemer) sowie "Wir haben die Zeit. Denkanstöße für ein gutes Leben" (Edition Körber-Stiftung). Seit 2015 ist er Lehrbeauftragter im Bereich Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

Publizist Christian Schüle
© Markus Röleke
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