Zerstörerische Antwort auf verklinkerte Fassaden

Von Elske Brault |
Um einen pubertierenden Jüngling auf Sinnsuche geht es in Rocko Schamonis Buch "Dorfpunks". Der Autor hat das Werk nun in Hamburg auf die Bühne gebracht: mit einem gut aussehenden Hauptdarsteller, einem Affen als Conferencier, sauberen Häuserfassaden und tiefen Einblicken in die gar nicht so unspießige Punk-Szene.
Das mit Telefonstreichen und skurrilen Mini-Hörspielen bekannt gewordene Autorenkollektiv "Studio Braun" hat bereits einmal ein völlig anderes Publikum ins altehrwürdige Schauspielhaus gezogen: Zu "Phoenix – Wem gehört das Licht", basierend auf Heinz Strunks Roman "Fleisch ist mein Gemüse" kamen Menschen um die 30, die sonst nur ins Kino gehen.

Jetzt haben die drei aus der Soundfabrik erneut "die größte Sprechbühne im deutschsprachigen Raum auf ein Kasperletheater heruntergedampft", wie Heinz Strunk zu Beginn des Stücks ankündigt.

Diesmal ist die Basis ein Buch von Rocko Schamoni: "Dorfpunks" beschreibt dessen Jugend im 600-Einwohner-Dorf Schmalenstedt in Schleswig-Holstein. Punk ist Schamonis zerstörerische Antwort auf die sauber verklinkerten Fassaden, die Bühnenbildner Damian Hinz auf der Schauspielhausbühne samt Kirchturm, Mini-Supermarkt und Textilboutique nachgebaut hat.

Punk als Mode, als Musik, als Lebenshaltung. Im Roman erzählt der Held in lakonischem Tonfall von den besten Plätzen zum Abhängen und Rumsaufen, den Schlägereien vor und in Meiers Dorfdisko, Bandwettbewerben in der Gesamtschule, Tramperreisen nach Italien und schließlich der Erlösung aus dieser zähen Abfolge gewaltgeladener Initiationsriten durch eine Frau. All dies kommt in dem Theaterstück auch vor, nur nicht ganz in derselben Reihenfolge.

Mit 17 Darstellern und Musikern inklusive ihnen selbst bringen die drei vom Studio Braun das gesamte Dorf auf die Bühne. Es gibt die Punker- und die Rockerclique und eine wunderschöne, Sommernachtstraum-artige Szene: Der Held verbringt auf LSD eine Nacht an einen Baum gekettet, eine Katze und ein sadomasochistischer Ledertyp, der "Wespenzüchter" (Jacques Palminger) diskutieren mit ihm über den Sinn des Lebens, zugleich sieht er eine menschliche Schnecke als Sinnbild seiner selbst immer wieder einen kaum erklommenen Berg herunterrutschen.

Hier erlöst ihn H.P.Baxter, Frontmann der Technoband "Scooter". Als kurze Videoeinspielung bietet er dem jungen Punk die Mitwirkung bei einer "ganz neuen Musikrichtung" an: "Komm nach Hamburg". Nicht nur damit löst der Abend den im Untertitel postulierten Anspruch "Der Film erstmals live auf der Bühne" ein. Schon zu Beginn gab es eine Schwarz-Weiß-Filmsequenz vier junger Punks vor einem Müllberg, die den Dreck der Bewegung, die abstoßende Verwahrlosung ihrer Anhänger unmissverständlich vor Augen führte.

Zwischendurch ironisiert die Theaterfassung Filmmittel, wenn zum Beispiel der Held mit Supermarktkassiererin Maria auf dem Moped gen Italien knattert und ein Bühnenarbeiter ihnen die Winddüse ins Gesicht hält, um eine typische Road-Movie-Nahaufnahme von glücklichen Gesichtern mit im Wind wehenden Haaren zu erzeugen.

So setzen die drei Theater-unerfahrenen Musiker, Autoren und Entertainer, Palminger, Schamoni und Strunk, geschickt und effektvoll verschiedenste Theatermittel ein. Besonderer Clou: ein Affe namens "Fraktus" führt an der Hand eines Puppenspielers durch den Abend und geriert sich gleich zu Beginn in einer Persiflage auf Goethesche "Mephisto"-Monologe als die Verkörperung des Bösen.

Doch er ist nur die böse Langeweile, die der Dorfjugend im Nacken sitzt. Später flüstert er dem ersten Punker die Regeln des Punk ins Ohr und macht damit deutlich: Die angebliche Eigenständigkeit und Non-Konformität der Punker ist in Wahrheit auch eine vorgeschriebene Haltung mit spießigem Verhaltenskodex.

Dennoch hat der Abend einige Hänger und Durststrecken: So aufregend war die Sinnsuche eines Pubertierenden schon als Buch nicht. Bloß eben recht aufschlussreich, wie auch Frieden und Wohlstand in gesunder Landluft unglücklich machen können.

Zusammengehalten wird die lose Szenenfolge hier vom gut aussehenden Hauptdarsteller Felix Kramer: Er wirkt rührend hilflos, desorientiert, verzweifelt und dabei sexy. Wie frau sich den jungen Rocko Schamoni vorstellt. Kramer gibt der Witzblattfolge Tiefe und sichert die Anteilnahme des Publikums. Seine Sparringspartnerin Jana Schulz als Punkerin ist wie immer bahnbrechend: Unerträglich prollig kotzt sie ihren Mitspielern das Dosenbier auf die durchlöcherten Klamotten.

Die wahre Entdeckung jedoch ist ein 29-Jähriger namens Tristan Seith. Erst denkt man: Der ist kein Schauspieler, den haben sie am Hauptbahnhof gekastet oder im Wartezimmer des Diabetesspezialisten. Der Mann redet nämlich wie einer von der Straße und ist mindestens so dick wie Rainer Werner Fassbinder kurz vor seinem Tod. Ein Unterschichtler, ein Mensch, ein hässlicher Anti-Star. Und ein grandioser Schauspieler, absolut natürlich, mit einer Bühnenpräsenz wie seinerzeit Ulrich Wildgruber oder wie Marion Breckwoldt.

Er hat als Hausmeister und Türsteher gejobbt, hat sich dann 2002 als Statist bei der Kulturfabrik Koblenz beworben und bekam sofort die Hauptrolle als "Woyzeck". Nach seinem Schauspielstudium in München ist er ab der nächsten Saison festes Mitglied im Ensemble des Deutschen Schauspielhauses Hamburg. Wir werden also noch viel von ihm sehen.

Dorfpunks – Blüten der Gewalt
Inszenierung: Studio Braun (Jacques Palminger, Rocko Schamoni, Heinz Strunk)
Deutsches Schauspielhaus Hamburg