Warum die Enttarnung Elena Ferrantes ein Unding ist
Niemand wusste, wer sich hinter dem literarischen Pseudonym Elena Ferrante versteckte – warum auch? Nun meint der italienische Journalist Claudio Gatti, die wahre Person enttarnt zu haben. Das aber sei kein "Scoop", sondern ein Angriff auf die Persönlichkeitsrechte und auf die Freiheit der Kunst, kommentiert Jan-Christoph Kitzler.
Ein journalistischer Scoop sollte einen Mehrwert liefern. Oder - um es pathetisch zu sagen - eine journalistische Enthüllung sollte helfen, die Welt etwas besser zu machen. Indem Missstände, aufgedeckt werden, die dadurch zu einem Skandal werden, der dann idealerweise zur Beseitigung der Missstände beiträgt. Soweit die Theorie.
In der Praxis gibt es haufenweise Pseudoenthüllungen, die das Papier nicht wert sind, auf das sie geschrieben sind. Und leider ist es bei der Enthüllung der Identität Elena Ferrantes so, dass die Welt durch sie nicht nur nicht besser wird, sondern ein Stück schlechter.
Methoden, wie man sie bei Steuersündern anwenden sollte
Der italienische Wirtschaftsjournalist Claudio Gatti hat sich wie ein Spürhund daran gemacht, sein Opfer zu stellen. Opfer deshalb, weil er der Person, die sich 24 Jahre lang hinter dem Pseudonym Elena Ferrante verstecken konnte, mit Methoden nachgestellt hat, die man am ehesten bei Steuersündern anwenden sollte.
So entdeckt er, dass die als Übersetzerin nur Fachleuten bekannte Anita Raja ausgerechnet 2010 eine Luxuswohnung in Rom kaufte, als das erste Buch von Elena Ferrante in Italien verfilmt wurde. Ein Jahr danach konnte sich Raja sogar noch ein Landhaus in der Toskana leisten. Und so richtig üppig wurde es dann ab 2014, nach dem Erfolg der Bücher Ferrantes in der englischsprachigen Übersetzung. Da kauft Raja eine weitere Luxuswohnung, oder vielmehr ihr Mann.
Gatti hat ein Geschäftsmodell zerstört
Informationen, die die Welt nicht braucht. Und da tröstet es auch nicht, dass Claudio Gatti nicht der einzige war, der versucht hat, das Rätsel zu lösen. Er liefert jetzt nur die wahrscheinlichsten Argumente, auch wenn weder der Verlag noch Anita Raja das bestätigen wollen.
Wenn man es gut mit Claudio Gatti meint, dann könnte man sagen, er habe lediglich ein Geschäftsmodell zerstört. Denn natürlich haben die Autorin, ihr italienscher Verlag und auch der Suhrkamp-Verlag, bei dem die vierteilige Reihe "Meine geniale Freundin" auf Deutsch erscheint, kräftig am Mysterium verdient, das die Autorin umgibt.
Die Autorin will nicht mehr schreiben
Aber abgesehen davon, dass der Erfolg der Bücher Elena Ferrantes auch ganz wesentlich an ihrer literarischen Qualität liegt, geht es hier um nichts anders, als um die Freiheit der Kunst. Die schließt meiner Meinung nach ausdrücklich die Freiheit eines Künstlers ein, sich hinter sein Werk zurückzuziehen, bis zu Unkenntlichkeit. Claudio Gatti hat mit seinem Scoop nicht einfach nur die Persönlichkeitsrechte einer Person zerstört, sondern auch ein Kunstwerk, das in Teilen vom Mysterium seines Schöpfers lebte.
Die fiktive Elena Ferrante hat angekündigt, im Fall ihrer Entdeckung nicht mehr zu schreiben. Für alle, die sich an ihren Büchern begeistern, ist der Schaden also gründlich.
Ein journalistischer Scoop, der nichts enthüllt, sondern nur zerstört. Auch deutsche Medien haben dabei kräftig mitgespielt.