Zerstörte kindliche Welten
Der Autor Peter Hartl erzählt in seinem Buch von sieben Kindern, denen totalitäre Staaten ihre Identität geraubt hatten, nachdem man sie zuvor "Belogen, betrogen und umerzogen" hatte, so auch der Titel der Monographie, hatte. Der ZDF-Redakteur hat Fälle und Schicksale ausgesucht, die es so oder ähnlich in seiner Umgebung mehrfach gegeben haben könnte.
Nicht nur die Deutschen in ihrer geteilten Republik, sondern auch mancher Nichtdeutsche, der zur Anti-Hitler-Koalition des Zweiten Weltkrieges gehört hatte, taten sich nach Kapitulation und Befreiung schwer mit dem, was die Zeitgeschichtler "Die Bewältigung der Nazi-Vergangenheit" genannt hatten.
Entsprechend zögerlich erschienen die ersten wissenschaftlichen Werke - nicht selten in Gestalt von Dokumentenbänden - zu den ganz "großen", sprich: allgemeinen Themen. Der Nationalsozialismus. Adolf Hitler. Das Dritte Reich. Der SS-Staat. Der Zweite Weltkrieg. Viele dieser Arbeiten wiesen in ein und dieselbe Richtung. Selbst der kleine Parteigenosse habe von dem Ausmaß der Gräuel nichts gewusst.
Und sollte man überhaupt etwas gewusst haben, dann musste man schweigen, um nicht das eigene kleine unbedeutende Leben zu riskieren. Ein niederländischer Theatermacher spielt seit Jahrzehnten das Ein-Personen-Stück, das schon im Titel sagt, worum es tatsächlich geht. Um kollektive Verdrängung nach dem Motto: "Nicht ich, sondern Adolf Hitler ist's gewesen!"
Mittlerweile leben wir nach dem Historikerstreit, nach Goldhagens "willigen Vollstreckern" und nach der Wehrmachtsausstellung inmitten einer Flut von Büchern, die selbst das kleinste und fernste Detail der Jahre 1930 bis 1949 untersucht haben. Dabei sind wir angekommen bei der untersten Altersgruppe ... bei den Kindern dieser Jahre.
Seit dem Jahr 2002 brechen die Kriegskinder ihr Schweigen; schweigen selbst die französischen Besatzungskinder nicht mehr länger, outen sich gleich mehrere ehemalige Hitler-Jungen als Juden und Hausfrauen als Babys, die ihren Erdenweg in der rassistischen Umgebung der Lebensborn-Kinderheime begannen. Seit September 2007 geht es nochmals um Kinderschicksale. ZDF-Redakteur Peter Hartl erzählt von sieben Kindern, denen totalitäre Staaten ihre Identität geraubt hatten, nachdem man sie zuvor "Belogen, betrogen und umerzogen" (so der Titel der Monographie) hatte.
Das Neue am Hartl-Buch: Der Autor hat Fälle und Schicksale ausgesucht, die es so oder ähnlich in seiner Umgebung mehrfach gegeben haben könnte. Die Konflikte haben also so etwas wie Modellcharakter - bei aller realistischen Unstellvertretbarkeit der kleinen Opfer. Da geht es zum Beispiel um einen deutschen Gymnasiasten, der mal in Posen, mal in Koblenz "deutschnational" erzogen wird; der jedoch nach der polnischen Niederlage auf Grund seines Aussehens seiner polnischen Mutter und den deutschen Pflegeeltern weggenommen und in eine Kette von Stationen eingespeist wird, die dem Kind lauter Teilidentitäten vorgaukeln.
Ziel: Der Junge soll statt zum nationalsozialistischen "Herrenmenschen" zur allseitig gebildeten sozialistischen Persönlichkeit heranwachsen. - Da macht die Stasi aus einem DDR-Außenminister per Schauprozess einen Verräter an der sozialistischen Sache und anschließend aus dem kleinen Sohn, der in westlichem Wohlstand lebt, eine ideologische und pädagogische Unperson, die alle Maßnahmen von Psychofolter trotzdem ertragen lernt. Heute sind Vater und Sohn engagierte katholische Christen.
Andere "Kombinationen": Eine Überlebende des tschechischen Dorfes Lidice contra den SS-Staat. Oder die Wandlung eines obsoleten Antisemiten zum engagierten Mitglied der Gesellschaft für jüdisch-christliche Zusammenarbeit.
Insgesamt eine Sammlung von "Fällen", die Braun so wenig schont wie Rot oder Schwarz; eine Sammlung, die gelegentlich der Versuchung erlegen ist, kindlich-sentimental zu erzählen. Aber vielleicht tut das Not angesichts der mehrfach geschilderten reinen Willkür, mit der die Welten der Kindheit zerstört werden.
Rezensiert von Jochen R. Klicker
Peter Hartl: Belogen, betrogen und umerzogen. Kinderschicksale aus dem 20. Jahrhundert
Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2007, 220 Seiten, 15 Euro
Entsprechend zögerlich erschienen die ersten wissenschaftlichen Werke - nicht selten in Gestalt von Dokumentenbänden - zu den ganz "großen", sprich: allgemeinen Themen. Der Nationalsozialismus. Adolf Hitler. Das Dritte Reich. Der SS-Staat. Der Zweite Weltkrieg. Viele dieser Arbeiten wiesen in ein und dieselbe Richtung. Selbst der kleine Parteigenosse habe von dem Ausmaß der Gräuel nichts gewusst.
Und sollte man überhaupt etwas gewusst haben, dann musste man schweigen, um nicht das eigene kleine unbedeutende Leben zu riskieren. Ein niederländischer Theatermacher spielt seit Jahrzehnten das Ein-Personen-Stück, das schon im Titel sagt, worum es tatsächlich geht. Um kollektive Verdrängung nach dem Motto: "Nicht ich, sondern Adolf Hitler ist's gewesen!"
Mittlerweile leben wir nach dem Historikerstreit, nach Goldhagens "willigen Vollstreckern" und nach der Wehrmachtsausstellung inmitten einer Flut von Büchern, die selbst das kleinste und fernste Detail der Jahre 1930 bis 1949 untersucht haben. Dabei sind wir angekommen bei der untersten Altersgruppe ... bei den Kindern dieser Jahre.
Seit dem Jahr 2002 brechen die Kriegskinder ihr Schweigen; schweigen selbst die französischen Besatzungskinder nicht mehr länger, outen sich gleich mehrere ehemalige Hitler-Jungen als Juden und Hausfrauen als Babys, die ihren Erdenweg in der rassistischen Umgebung der Lebensborn-Kinderheime begannen. Seit September 2007 geht es nochmals um Kinderschicksale. ZDF-Redakteur Peter Hartl erzählt von sieben Kindern, denen totalitäre Staaten ihre Identität geraubt hatten, nachdem man sie zuvor "Belogen, betrogen und umerzogen" (so der Titel der Monographie) hatte.
Das Neue am Hartl-Buch: Der Autor hat Fälle und Schicksale ausgesucht, die es so oder ähnlich in seiner Umgebung mehrfach gegeben haben könnte. Die Konflikte haben also so etwas wie Modellcharakter - bei aller realistischen Unstellvertretbarkeit der kleinen Opfer. Da geht es zum Beispiel um einen deutschen Gymnasiasten, der mal in Posen, mal in Koblenz "deutschnational" erzogen wird; der jedoch nach der polnischen Niederlage auf Grund seines Aussehens seiner polnischen Mutter und den deutschen Pflegeeltern weggenommen und in eine Kette von Stationen eingespeist wird, die dem Kind lauter Teilidentitäten vorgaukeln.
Ziel: Der Junge soll statt zum nationalsozialistischen "Herrenmenschen" zur allseitig gebildeten sozialistischen Persönlichkeit heranwachsen. - Da macht die Stasi aus einem DDR-Außenminister per Schauprozess einen Verräter an der sozialistischen Sache und anschließend aus dem kleinen Sohn, der in westlichem Wohlstand lebt, eine ideologische und pädagogische Unperson, die alle Maßnahmen von Psychofolter trotzdem ertragen lernt. Heute sind Vater und Sohn engagierte katholische Christen.
Andere "Kombinationen": Eine Überlebende des tschechischen Dorfes Lidice contra den SS-Staat. Oder die Wandlung eines obsoleten Antisemiten zum engagierten Mitglied der Gesellschaft für jüdisch-christliche Zusammenarbeit.
Insgesamt eine Sammlung von "Fällen", die Braun so wenig schont wie Rot oder Schwarz; eine Sammlung, die gelegentlich der Versuchung erlegen ist, kindlich-sentimental zu erzählen. Aber vielleicht tut das Not angesichts der mehrfach geschilderten reinen Willkür, mit der die Welten der Kindheit zerstört werden.
Rezensiert von Jochen R. Klicker
Peter Hartl: Belogen, betrogen und umerzogen. Kinderschicksale aus dem 20. Jahrhundert
Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2007, 220 Seiten, 15 Euro