Zeruya Shalev: Junge Israelis müssen zu früh erwachsen werden
Der Alltag in Israel ist nach Ansicht der israelischen Schriftstellerin Zeruya Shalev für die Entwicklung junger Menschen nicht gesund. Eine Atmosphäre, die von Krieg und Terror bestimmt wird, führe dazu, dass junge Menschen zu früh reif werden, sagte Shalev im Deutschlandradio Kultur.
Hettinger: Zaruya Shalev ist derzeit auf Lesereise, stellt ihr neues Buch vor, "Thera" heißt es. Der deutsche Titel ist "Späte Familie", ein Buch, in dem das private Glück in einer bedrohten Gesellschaft ausgestellt wird. Zaruya Shalev, die Tagespolitik, der Alltag spielt keine allzu große Rolle, stattdessen beleuchten Sie die Protagonisten, die sich auf ganz eigene Weise in einem bedrohten Umfeld bewegen, die sich verlieben, die auch privates Glück zulassen. Wie gelingt für Sie dieser Spagat, diese Atmosphäre und vor allen Dingen auch dieses Lebensgefühl zu kanalisieren?
Shalev: Nun ja, ich habe das Gefühl, dass ich diese Trennung unbedingt vornehmen muss in dem, was ich schreibe, also die Trennung zwischen der israelischen Politik und dem Lebensgefühl. Ich mag das nicht so gerne miteinander vermischen. Ich interessiere mich schon für Politik, aber nicht auf literarische Weise. Ich mag das nicht durcheinander bringen in meinem Schreiben. Ich finde, dass Politik ein bisschen zu laut ist, ein bisschen zu aggressiv. In meinem Schreiben konzentriere ich mich gerne auf die Details. Ich konzentriere mich auf die menschlichen Empfindungen, und das finde ich einfach nicht in der Politik.
Auch wenn wir in einer sehr gefährlichen Lebensrealität uns befinden in Israel, dass wir doch trotzdem unsere Gefühle erleben, vielleicht erleben wir sie sogar noch intensiver als an anderen Orten in unseren Familien, zwischen den Kindern und Eltern, zwischen Liebenden, zwischen Freunden. Wir erleben alle unsere Gefühle auf eine sehr lebendige Art und Weise, vielleicht gerade weil wir in einer solchen gefährlichen Situation leben. Ich glaube, dass ich als Schriftstellerin mir diese Freiheiten nehmen muss, über diese Themen zu schreiben, die mich inspirieren.
Hettinger: Ich höre da ein wenig heraus, dass dieser Tanz auf dem Vulkan, dieser sehr gefährliche Alltag auch ein Beitrag dazu ist, um diese Intensität, die Sie Ihren Figuren gestatten, noch zusätzlich zunehmen zu lassen. Das bedeutet, dass Ihre Geschichten in keinem anderen Land dieser Welt spielen könnten. Was macht das Besondere der Atmosphäre, der Stimmung aus?
Shalev: Eigentlich ist Israel das einzige Land, das ich wirklich kenne. Ich kann diese Frage also nicht so sehr gut beantworten. Natürlich sind diese Themen, über die ich schreibe, diese Art, wie ich meine Geschichten strukturiere zum Thema Scheidung, zum Thema Patchwork-Familie, das sind natürlich internationale Themen. Diese Geschichten könnten sich überall abspielen auf der Welt. Vielleicht ist ja diese ganz spezielle Atmosphäre in meinen Geschichten, diese Atemlosigkeit, diese Intensität, vielleicht hat das auch etwas zu tun mit dem Ort, an dem die Geschichten spielen.
Ich kenne nicht allzu viele europäische Länder, aber ich würde sagen, es ist auch eine Frage der Charaktere, der Persönlichkeiten, die ich in meinen Geschichten beschreibe. Es sind extreme Figuren, die ich schaffe, und vielleicht ist es so, dass ich möchte, dass meine Figuren diese extremen Orte zum Hintergrund haben, weil ich sie dann tiefer in diesen inneren Prozess hineinführen kann.
Ich möchte ja gar nicht, dass meine Figuren perfekt sind. Das wäre nicht mehr wirklich interessant für mich dann, sie zu beschreiben. Ich möchte eigentlich genau, dass sie so sind, wie sie sind. Natürlich möchte ich, dass sie glücklich sind. Ich möchte, dass sie traurig sind. Ich möchte, dass sie aggressiv sind. Ich möchte, dass sie alle diese intensiven Zustände erleben. Aber letztendlich ist das alles immer zurückzuführen auf diesen extremen Charakter, den ich möchte, den sie haben.
Hettinger: Sie sagen von sich, dass Sie keine politische Schriftstellerin sind in dem Sinne, dass Sie ein konkretes politisches Anliegen vertreten, haben auch eben in unserem Gespräch gesagt, Politik ist Ihnen zu laut, zu pompös. Nun beschreiben Sie ja in Ihren Büchern auch eine ganz konkrete Gesellschaft, eine Form von Politik, wenn man so will, und Sie haben als Schriftstellerin die Chance, einen Gegenentwurf auch zu schaffen. Wie gehen Sie mit dieser Facette Ihres schriftstellerischen Daseins um?
Shalev: Nun, zunächst einmal, wenn wir über Politik sprechen wollen, dann müssen wir uns ja erstmal fragen, was ist denn eigentlich Politik? Wenn Politik bedeuten soll, dass wir über Wahlen sprechen, über Minister, über Parteien, dann ist das sicherlich etwas, was mich nicht so sehr in meinem Schreiben interessiert. Aber wenn wir über Politik sprechen als über etwas, dass die Beziehungen zwischen den Geschlechtern, zwischen Mann und Frau, zwischen Menschen und die Selbstwahrnehmung bezeichnen soll, dann, würde ich sagen, sprechen wir über Politik in einem größeren Sinne, und dann ist das schon etwas, was mich auch als Schriftstellerin interessiert.
Ich weiß aber nicht, ob Schriftsteller wirklich so kompetent sind, sich zu politischen Themen zu äußern, aber ich denke, dass das, was Schriftsteller tun können, letztendlich ist, die Komplexität der Dinge zu beleuchten, und das tue auch ich in meinen Büchern, auch wenn ich dies auf etwas andere Art und Weise tue. Ich zeige die Komplexität in den Beziehungen zum Beispiel zwischen Männern und Frauen und damit beleuchte ich natürlich auch implizit ein bisschen die Komplexität, die Vielschichtigkeit der Gesellschaft.
Man könnte das sicherlich auch übertragen auf die Situation zwischen den Israelis und den Palästinensern, die ja zusammenleben müssen, und wenn wir uns ansehen, wie schwierig es ist, wenn Männer und Frauen miteinander auskommen wollen, dann brauchen wir uns ja eigentlich gar nicht so sehr zu wundern, dass das auch für diese beiden Völker so schwierig ist, die ja jeden Tag miteinander leben müssen.
Hettinger: Diese Schwierigkeiten im Miteinander thematisieren Sie auch in Ihrem Buch "Späte Familie". Es geht um durchaus handfeste Konflikte. Es geht um Scheidung. Es geht um die Frage, wie organisiert man eine Patchwork-Familie. Aber im Grunde genommen habe ich das Gefühl, dass Ihre Figuren zutiefst romantisch sind, dass sie die große Harmonie suchen und das kleine Glück in einer Welt, die ihnen oft nicht wohl gesonnen ist.
Vor einigen Tagen ist in Deutschland eine Zeitschrift erschienen, die heißt "Dummie", und da ist dieses Verhältnis der Geschlechter ganz anders geschildert. Da geht es, ja, um sehr harte Anbahnung von Sex. Es geht nicht mehr um Liebe. Es ist ein sehr pragmatisches Verhältnis. Es wird eine junge Generation um die 30 geschildert, und die Kernaussage ist, wir sind eine Generation, der man die Jugend genommen hat, ohne eine andere Vision anzubieten. Wie beurteilen Sie dieses Lebensgefühl?
Shalev: Ja, es ist wahr, meine Figuren suchen nach Glück. Ich denke, das ist ein Motiv, das sich in allen meinen Büchern wieder findet, aber in "Späte Familie" könnte man vielleicht auch sagen, dass die Hauptfigur Ella am Ende des Buches erkennt, dass sie vielleicht kein Glück finden kann, dass es das Glück vielleicht gar nicht gibt, aber dass das vielleicht auch gar nicht so schlimm ist. Ella ist am Anfang sehr impulsiv, sie will ihr ganzes Leben verändern, aber sie erkennt dann nach und nach, dass der Preis dafür sehr hoch ist.
Wenn ich nun über die junge Generation, über die jungen Menschen in Israel nachdenke, da weiß ich nicht so recht. Ich bin ja keine Soziologin und ich habe dazu keine Forschungen betrieben. Ich habe aber den Eindruck, dass die jungen Menschen bei uns müde sind, müde von Krieg und Terror, dass sie ein normales Leben leben möchten, dass sie auch entfliehen möchten dieser Realität.
Wir sehen, dass viele junge Menschen direkt nach dem Militärdienst erstmal nach Indien gehen. Es dauert dann Jahre, bevor sie überhaupt ein normales Leben beginnen können, und vielleicht ist das Problem hierbei, dass es gar nicht so gesund ist, in einer solchen Gesellschaft aufzuwachsen, in einem solchen Land aufzuwachsen. Ich habe den Eindruck, dass unsere jungen Menschen manchmal viel zu früh eine Reife haben müssen, die sie noch gar nicht haben können.
Denken Sie an einen 18-jährigen, 20-jährigen Soldaten, der mit so schwierigen Realitäten konfrontiert wird, mit so schwierigen Situationen, die dann natürlich sein Leben, sein emotionales, sein sexuelles Leben beeinflussen müssen. Vielleicht kommen einfach diese Situationen viel zu früh für viele.
Hettinger: Sie selbst haben diese tägliche Bedrohung in ihrer schrecklichsten Ausprägung selbst erlebt. Sie sind Opfer eines Selbstmordattentats geworden im Januar 2004. Woraus schöpfen Sie nach diesen schrecklichen Erlebnissen die Kraft, weiterzuleben in dieser bedrohten Stadt?
Shalev: Ja, es stimmt. Jerusalem ist wirklich ein sehr gefährlicher Ort, und es ist auch so, dass dieses Buch "Späte Familie" in einer Situation entstand, in einer Zeit entstand, in der sehr viele Terroranschläge stattfanden, auch schon bevor ich selbst verletzt wurde. Ich habe aber trotzdem niemals daran gedacht, meine Stadt oder mein Land zu verlassen. Ich denke, man sollte ja nicht nur an einem Ort dann leben, wenn es einfach, wenn es bequem ist, wenn alles wunderbar ist, sondern man hat ja auch eine bestimmte Verantwortung, das ist mein Zuhause, mein Heimatland.
Natürlich denkt man manchmal darüber nach, wie die Verantwortungen, die Verantwortlichkeiten eigentlich sind, besonders wenn man Kinder hat. Ich habe also das Gefühl, dass ich bleiben muss, auch nach diesen schrecklichen Erlebnissen, und auch wenn es eine lange Zeit gedauert hat, bis ich mich wieder erholt habe. Aber ich versuche mein Bestes zu tun, weiterzuleben, mein Leben zu leben, in meiner Stadt zu bleiben, und ich hoffe, dass wir irgendwann eine Lösung finden werden für unser Problem.
Shalev: Nun ja, ich habe das Gefühl, dass ich diese Trennung unbedingt vornehmen muss in dem, was ich schreibe, also die Trennung zwischen der israelischen Politik und dem Lebensgefühl. Ich mag das nicht so gerne miteinander vermischen. Ich interessiere mich schon für Politik, aber nicht auf literarische Weise. Ich mag das nicht durcheinander bringen in meinem Schreiben. Ich finde, dass Politik ein bisschen zu laut ist, ein bisschen zu aggressiv. In meinem Schreiben konzentriere ich mich gerne auf die Details. Ich konzentriere mich auf die menschlichen Empfindungen, und das finde ich einfach nicht in der Politik.
Auch wenn wir in einer sehr gefährlichen Lebensrealität uns befinden in Israel, dass wir doch trotzdem unsere Gefühle erleben, vielleicht erleben wir sie sogar noch intensiver als an anderen Orten in unseren Familien, zwischen den Kindern und Eltern, zwischen Liebenden, zwischen Freunden. Wir erleben alle unsere Gefühle auf eine sehr lebendige Art und Weise, vielleicht gerade weil wir in einer solchen gefährlichen Situation leben. Ich glaube, dass ich als Schriftstellerin mir diese Freiheiten nehmen muss, über diese Themen zu schreiben, die mich inspirieren.
Hettinger: Ich höre da ein wenig heraus, dass dieser Tanz auf dem Vulkan, dieser sehr gefährliche Alltag auch ein Beitrag dazu ist, um diese Intensität, die Sie Ihren Figuren gestatten, noch zusätzlich zunehmen zu lassen. Das bedeutet, dass Ihre Geschichten in keinem anderen Land dieser Welt spielen könnten. Was macht das Besondere der Atmosphäre, der Stimmung aus?
Shalev: Eigentlich ist Israel das einzige Land, das ich wirklich kenne. Ich kann diese Frage also nicht so sehr gut beantworten. Natürlich sind diese Themen, über die ich schreibe, diese Art, wie ich meine Geschichten strukturiere zum Thema Scheidung, zum Thema Patchwork-Familie, das sind natürlich internationale Themen. Diese Geschichten könnten sich überall abspielen auf der Welt. Vielleicht ist ja diese ganz spezielle Atmosphäre in meinen Geschichten, diese Atemlosigkeit, diese Intensität, vielleicht hat das auch etwas zu tun mit dem Ort, an dem die Geschichten spielen.
Ich kenne nicht allzu viele europäische Länder, aber ich würde sagen, es ist auch eine Frage der Charaktere, der Persönlichkeiten, die ich in meinen Geschichten beschreibe. Es sind extreme Figuren, die ich schaffe, und vielleicht ist es so, dass ich möchte, dass meine Figuren diese extremen Orte zum Hintergrund haben, weil ich sie dann tiefer in diesen inneren Prozess hineinführen kann.
Ich möchte ja gar nicht, dass meine Figuren perfekt sind. Das wäre nicht mehr wirklich interessant für mich dann, sie zu beschreiben. Ich möchte eigentlich genau, dass sie so sind, wie sie sind. Natürlich möchte ich, dass sie glücklich sind. Ich möchte, dass sie traurig sind. Ich möchte, dass sie aggressiv sind. Ich möchte, dass sie alle diese intensiven Zustände erleben. Aber letztendlich ist das alles immer zurückzuführen auf diesen extremen Charakter, den ich möchte, den sie haben.
Hettinger: Sie sagen von sich, dass Sie keine politische Schriftstellerin sind in dem Sinne, dass Sie ein konkretes politisches Anliegen vertreten, haben auch eben in unserem Gespräch gesagt, Politik ist Ihnen zu laut, zu pompös. Nun beschreiben Sie ja in Ihren Büchern auch eine ganz konkrete Gesellschaft, eine Form von Politik, wenn man so will, und Sie haben als Schriftstellerin die Chance, einen Gegenentwurf auch zu schaffen. Wie gehen Sie mit dieser Facette Ihres schriftstellerischen Daseins um?
Shalev: Nun, zunächst einmal, wenn wir über Politik sprechen wollen, dann müssen wir uns ja erstmal fragen, was ist denn eigentlich Politik? Wenn Politik bedeuten soll, dass wir über Wahlen sprechen, über Minister, über Parteien, dann ist das sicherlich etwas, was mich nicht so sehr in meinem Schreiben interessiert. Aber wenn wir über Politik sprechen als über etwas, dass die Beziehungen zwischen den Geschlechtern, zwischen Mann und Frau, zwischen Menschen und die Selbstwahrnehmung bezeichnen soll, dann, würde ich sagen, sprechen wir über Politik in einem größeren Sinne, und dann ist das schon etwas, was mich auch als Schriftstellerin interessiert.
Ich weiß aber nicht, ob Schriftsteller wirklich so kompetent sind, sich zu politischen Themen zu äußern, aber ich denke, dass das, was Schriftsteller tun können, letztendlich ist, die Komplexität der Dinge zu beleuchten, und das tue auch ich in meinen Büchern, auch wenn ich dies auf etwas andere Art und Weise tue. Ich zeige die Komplexität in den Beziehungen zum Beispiel zwischen Männern und Frauen und damit beleuchte ich natürlich auch implizit ein bisschen die Komplexität, die Vielschichtigkeit der Gesellschaft.
Man könnte das sicherlich auch übertragen auf die Situation zwischen den Israelis und den Palästinensern, die ja zusammenleben müssen, und wenn wir uns ansehen, wie schwierig es ist, wenn Männer und Frauen miteinander auskommen wollen, dann brauchen wir uns ja eigentlich gar nicht so sehr zu wundern, dass das auch für diese beiden Völker so schwierig ist, die ja jeden Tag miteinander leben müssen.
Hettinger: Diese Schwierigkeiten im Miteinander thematisieren Sie auch in Ihrem Buch "Späte Familie". Es geht um durchaus handfeste Konflikte. Es geht um Scheidung. Es geht um die Frage, wie organisiert man eine Patchwork-Familie. Aber im Grunde genommen habe ich das Gefühl, dass Ihre Figuren zutiefst romantisch sind, dass sie die große Harmonie suchen und das kleine Glück in einer Welt, die ihnen oft nicht wohl gesonnen ist.
Vor einigen Tagen ist in Deutschland eine Zeitschrift erschienen, die heißt "Dummie", und da ist dieses Verhältnis der Geschlechter ganz anders geschildert. Da geht es, ja, um sehr harte Anbahnung von Sex. Es geht nicht mehr um Liebe. Es ist ein sehr pragmatisches Verhältnis. Es wird eine junge Generation um die 30 geschildert, und die Kernaussage ist, wir sind eine Generation, der man die Jugend genommen hat, ohne eine andere Vision anzubieten. Wie beurteilen Sie dieses Lebensgefühl?
Shalev: Ja, es ist wahr, meine Figuren suchen nach Glück. Ich denke, das ist ein Motiv, das sich in allen meinen Büchern wieder findet, aber in "Späte Familie" könnte man vielleicht auch sagen, dass die Hauptfigur Ella am Ende des Buches erkennt, dass sie vielleicht kein Glück finden kann, dass es das Glück vielleicht gar nicht gibt, aber dass das vielleicht auch gar nicht so schlimm ist. Ella ist am Anfang sehr impulsiv, sie will ihr ganzes Leben verändern, aber sie erkennt dann nach und nach, dass der Preis dafür sehr hoch ist.
Wenn ich nun über die junge Generation, über die jungen Menschen in Israel nachdenke, da weiß ich nicht so recht. Ich bin ja keine Soziologin und ich habe dazu keine Forschungen betrieben. Ich habe aber den Eindruck, dass die jungen Menschen bei uns müde sind, müde von Krieg und Terror, dass sie ein normales Leben leben möchten, dass sie auch entfliehen möchten dieser Realität.
Wir sehen, dass viele junge Menschen direkt nach dem Militärdienst erstmal nach Indien gehen. Es dauert dann Jahre, bevor sie überhaupt ein normales Leben beginnen können, und vielleicht ist das Problem hierbei, dass es gar nicht so gesund ist, in einer solchen Gesellschaft aufzuwachsen, in einem solchen Land aufzuwachsen. Ich habe den Eindruck, dass unsere jungen Menschen manchmal viel zu früh eine Reife haben müssen, die sie noch gar nicht haben können.
Denken Sie an einen 18-jährigen, 20-jährigen Soldaten, der mit so schwierigen Realitäten konfrontiert wird, mit so schwierigen Situationen, die dann natürlich sein Leben, sein emotionales, sein sexuelles Leben beeinflussen müssen. Vielleicht kommen einfach diese Situationen viel zu früh für viele.
Hettinger: Sie selbst haben diese tägliche Bedrohung in ihrer schrecklichsten Ausprägung selbst erlebt. Sie sind Opfer eines Selbstmordattentats geworden im Januar 2004. Woraus schöpfen Sie nach diesen schrecklichen Erlebnissen die Kraft, weiterzuleben in dieser bedrohten Stadt?
Shalev: Ja, es stimmt. Jerusalem ist wirklich ein sehr gefährlicher Ort, und es ist auch so, dass dieses Buch "Späte Familie" in einer Situation entstand, in einer Zeit entstand, in der sehr viele Terroranschläge stattfanden, auch schon bevor ich selbst verletzt wurde. Ich habe aber trotzdem niemals daran gedacht, meine Stadt oder mein Land zu verlassen. Ich denke, man sollte ja nicht nur an einem Ort dann leben, wenn es einfach, wenn es bequem ist, wenn alles wunderbar ist, sondern man hat ja auch eine bestimmte Verantwortung, das ist mein Zuhause, mein Heimatland.
Natürlich denkt man manchmal darüber nach, wie die Verantwortungen, die Verantwortlichkeiten eigentlich sind, besonders wenn man Kinder hat. Ich habe also das Gefühl, dass ich bleiben muss, auch nach diesen schrecklichen Erlebnissen, und auch wenn es eine lange Zeit gedauert hat, bis ich mich wieder erholt habe. Aber ich versuche mein Bestes zu tun, weiterzuleben, mein Leben zu leben, in meiner Stadt zu bleiben, und ich hoffe, dass wir irgendwann eine Lösung finden werden für unser Problem.