Zeruya Shalev: Schmerz
Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler
Berlin Verlag, Berlin 2015
380 Seiten, 24,00 Euro
Zwischen Schuld und Aufbruch
Zeruya Shalev legt mit "Schmerz" zum zweiten Mal eine psychologisch tiefgehende Familiengeschichte vor. Ihre Protagonistin entdeckt ihre Jugendliebe wieder und stürzt in eine tiefe Krise. Kann sie sich und ihre Familie retten?
Da ist er wieder - der unverwechselbare Sound: Drei Jahre nachdem Zeruya Shalev "Für den Rest des Lebens", einen eng mit der Geschichte Israels verknüpften Generationenroman, vorgelegt hat, erscheint nun "Schmerz", die Geschichte einer verheirateten Frau, die überraschend ihre Jugendliebe wieder trifft.
Wie immer ist Shalevs Plot einfach konstruiert, das Personal der Handlung überschaubar. Die israelische Autorin konzentriert sich auf die kleinste gesellschaftliche Einheit, das Paar, die Familie. Mann, Frau, Mütter, Väter und zunehmend Kinder sind ihre Hauptfiguren. Das schwankende Beziehungsgeflecht zwischen diesen versteht sie wie keine andere Autorin bis in die feinsten psychologischen Verästelungen auszubuchstabieren.
Die behauptete Normalität ist bei Shalev brüchig
Iris, die Ich-Erzählerin, ist Mitte Vierzig. Schulleiterin in Jerusalem, gute 20 Jahre verheiratet mit Micki, einem Informatiker, der leidenschaftlich gerne Computerschach spielt. Tochter Alma hat ihren Militärdienst abgeschlossen und jobbt in Tel Aviv als Kellnerin, Sohn Omer steht kurz vor dem Schulabschluss. Die Ehe von Micki und Iris ist unaufgeregt stabil, die beiden haben sich mit getrennten Schlafzimmern und einem befriedigendem Berufsalltag eingerichtet. Eigentlich könnte es noch ein paar Jahrzehnte so weitergehen. Doch plötzlich erweist sich die behauptete Normalität als brüchig, der äußere Frieden als trügerischer Schein. Wie immer lässt Shalev Dämonen aus dem Unterbewusstsein ihrer Figuren emporsteigen und all das durcheinanderbringen, was so geordnet erschien. Und wie immer hat das katastrophale wie auch kathartische Folgen.
Wir erfahren, dass Iris vor zehn Jahre Opfer eines Selbstmordanschlags geworden ist - seitdem lebt sie mit körperlichen Schmerzen. Wir erfahren, dass sie als Kind ihren geliebten Vater in einem von Israels vielen Kriegen verloren hat. Und dass sie von ihrer großen Liebe Eitan einst abrupt verlassen wurde. Die dadurch erlittenen seelischen Verletzungen sind nie verheilt und begleiten sie länger schon als die körperlichen. Ihr Leben war nie schmerzfrei. Als Iris bei einem Krankenhausbesuch im behandelnden Arzt ihre Jugendliebe Eitan wiedererkennt, brechen alte Wunden auf. Sie wird zur Stalkerin, zur Ehebrecherin und lange ist nicht klar, ob Shalev nun das Märchen einer großen, leidenschaftlichen Liebe erzählt oder die Krise einer Frau kurz vor der Menopause.
"Schmerz" ist etwas zu perfekt abgemischt
Die Autorin will beides. Es gibt berührende Schilderungen von Glücksmomenten der (vor allem körperlichen) Wiedervereinigung des ehemals jugendlichen Liebespaars, einer selbstinitiierten Neugeburt der Protagonistin. Und es gibt quälende Beschreibungen des damit verbundenen emotionalen Chaos', offensichtlicher Neurosen und hysterischer Anfälle. Iris hadert den ganzen Roman hindurch mit ihren Wünschen und Bedürfnissen, verheddert sich zwischen Schuldgefühlen und Aufbruchsstimmung. Ihre Tochter Alma gerät unter den Einfluss eines zwielichtigen spirituellen Lehrers - sie zu retten, dient der Mutter schließlich als Vorwand, die Familie nicht zu verlassen. Am Ende steht die emotional begründete, doch durchaus rationale Einsicht der haltlosen Protagonisten, dass die Wiederbegegnung mit Eitan nicht Chance gewesen sei, ihn wieder zu lieben, "sondern die Chance, ihr Leben zu lieben, mit dem, was sie hat, und nicht mit dem, was sie nicht hat".
Da ist er wieder, der unverwechselbare Sound, dieses Mal vielleicht ein bisschen zu perfekt abgemischt.