Flucht wie in Trance
Anita Ermers Dadic war 14, als das ZETRA-Konzert stattfand. In dieser Nacht schien alles möglich. Aber schon bald kam der Krieg in ihr Dorf. Sie floh mit ihren Geschwistern und ihrer Mutter - doch ihren Vater mussten sie im brennenden Dorf zurücklassen...
Anita: "Krieg jetzt Gänsehaut. Und wenn ich mir vorstelle, die waren da auf der Bühne und ich hätte das stehen können, das wäre glaube ich das Highlight meines Lebens bis dahin gewesen."
Die Gruppe Plavi Orkestara sind Anitas Helden, bis heute. Damals, im Sommer 1991, fleht sie ihre Eltern an, nach Sarajevo fahren zu dürfen, um die Gruppe bei einem Konzert für den Frieden in der ZETRA-Halle zu sehen. Sarajevo aber ist 220 Kilometer entfernt. Anita erst 14. Und ihre Eltern lassen sie nicht mal allein in den nächsten Ort. So angespannt ist die Situation in Anitas Heimat, einem bosnischen Dorf nahe der Grenze zu Kroatien.
Aber nicht an diesem Abend. Nicht in dieser Nacht. In der so viele Menschen in und vor der ZETRA-Halle in Sarajevo zusammen kommen. In dem Glauben: Dieser Abend bringt den Frieden zurück.
"Das war wie so ein Zeichen: Nein, wir nicht! Irgendwie hats mir persönlich so eine Art Hoffnung gegeben. Weil ich hab gesagt. Wenn der da hingeht, der spricht, sie macht – da kann nur gut gehen."
Fein säuberlich ein Herz daneben gemalt
Das Konzert wird im Fernsehen übertragen. Und Anitas Familie sitzt bei Meze und Bier, Saft und Salzstangen davor und lässt sich anstecken von der Energie der Musik, der Euphorie der Menschen. Denen es egal ist, ob sie Kroaten, Serben oder Muslime sind. Genau wie Anitas Nachbarn. Die sind fast alle katholisch. Außer ihr Vater, der beliebte Musikprofessor. Der ist Moslem.
"Das war eigentlich mehr so ein Mädchen-Ding, als dann aber alles ernster wurde, wurde mein Buch halt erwachsener."
24 Jahre später sitzt Anita am Wohnzimmertisch ihrer Doppelhaushälfte im niederrheinischen Goch, blättert in einem abgegriffenem Din-A-4 Heft, ein Tagebuch. Gleich hinter einem Star-Schnitt von Jennifer Grey aus Dirty Dancing hat sie Zeitungsausschnitte vom Konzert in der ZETRA-Halle geklebt. Fein säuberlich hat Anita ein Herz daneben gemalt und "Peace" hineingeschrieben.
Wenig später, erinnert sich die 38-Jährige, fehlen immer mehr Kinder in ihrer Klasse, die Einschläge der Granaten kommen immer näher. Der Vater schickt die Kinder nur noch angezogen ins Bett.
"Das waren die schlimmsten Nächte, als es hieß: Heute Nacht kommen DIE und schlachten alle ab und bringen alle um und du schläfst jetzt halb angezogen, falls wir gehen müssen..."
Als sich die ersten Scharfschützen auf einem Silo im Dorf positionieren, schickt Anitas Vater sie, ihre kleine Schwester und ihre Mutter zu Freunden auf die andere Seite des Flusses. Da ist es sicher, von dort aus sollen sie am nächsten Tag zu Verwandten nach Deutschland. In derselben Nacht kommen DIE.
"Bin ich zum Fenster, habe geguckt und konnte es nicht fassen. Die komplette Seite hinterm Fluss hat gebrannt. Das ist ein Bild, das werde ich nicht los. Und Papa? Der steckt da drin, mittendrin."
Die Busfahrt zieht wie ein Film an ihr vorbei
Am nächsten Morgen sitzen Anita, ihre Mutter und ihre kleine Schwester im Bus nach Frankfurt. Wie in Trance, unter Schock zieht die Fahrt wie ein Film an ihr vorbei. Nur ein Bild der Flucht gräbt sich in ihr Gedächtnis. Das eines Mannes, der plötzlich den Bus anhält …
"Und er hatte eine schwarze Uniform an, langes Messer an der Hüfte. In dem Moment hab ich gebetet, bitte, bitte lass ihn einfach gehen, der soll gehen. Dann blieb der neben mir stehen. Wenn du ihn anguckst, dann bist du weg. Hab ich nur nicht geatmet, hab auf dieses Messer geguckt und gedacht: geh geh geh jetzt und nimm keinen mit."
Der Mann geht. Und sechs Wochen später schafft es auch Anitas Vater. In diesen sechs Woche, sagt sie, bin ich erwachsen geworden. Mit 14.
Anitas Familie baut sich in Deutschland ein neues Leben auf. Ihr Vater geht putzen, ihre Mutter arbeitet in einem Imbiss. Anita geht zur Schule, macht einen Abschluss, eine Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau, heiratet und darf deshalb in Deutschland bleiben. Für ihre Familie läuft 1998 die Duldung aus.
Anita braucht Jahre, um über den Krieg zu sprechen ohne dabei in Tränen auszubrechen. Heute kann sie es, will sie es sogar. Ist täglich auf Facebook und liked die Geschichten derer, die in diesem Sommer einem Aufruf im Netz folgen und einem Team von Journalisten ihre Geschichten erzählen und teilen.
Das Konzert vom 28. Juli 1991 ist für Anita eine Kindheitserinnerung. Positiv besetzt. In einer Zeit der Angst und Unruhe. Und kommt auch deshalb gerade jetzt zur rechten Zeit.
"Ich glaub zwar nicht, dass das hier ein Krieg kommt. Trotzdem nur um die Leute zu sensibilisieren. Guck mal, Nationalismus ist nichts Tolles, muss man von Anfang an bekämpfen und nicht stark werden lassen und dann sich denken: hätten wir damals mal gehandelt, wär es nicht soweit gekommen. Das find ich wichtig."