Zettelkasten von Balkan-Stereotypen
Der Balkan und seine jüngste Vergangenheit prägt die Geschichten der Romane von der in Albanien geborenen und in Paris lebenden Künstlerin Ornela Vorpsi und des aus Kroatien stammenden und in Deutschland ansässigen Journalisten Nicol Ljubic.
Soll man die Vergangenheit beschweigen, um eine unbelastete Zukunft zu gewinnen? Ornela Vorpsi und Nicol Ljubić sind nicht dieser Ansicht. Vorpsi, 1991 aus Albanien nach Mailand ausgewandert und seit 1997 in Paris als Fotografin, Malerin und Videokünstlerin lebend, hat vor drei Jahren in dem wunderbaren, autobiografisch inspirierten Erzählungsband "Das ewige Leben der Albaner" ihr Vaterland als eine grausame, hochgradig sexualisierte und politisierte Märchenwelt geschildert.
Ihr zweites, wieder auf Italienisch verfasstes Buch "Die Hand, die man nicht beißt" erzählt von der Reise einer schönen, nach Paris emigrierten Albanerin nach Sarajewo zu einem kranken Freund. Bis zum ersten Treffen vergehen 60 der 120 Seiten, und am Ende verschwindet der Freund einfach, als wäre er nur Anlass gewesen für Vorpsis Erzählerin, sich auszulassen über den Balkan mit seinen Neidgefühlen, Betrügereien, Minderwertigkeitskomplexen, Größenwahn, dem Hass auf Ausgereiste und einiges mehr. Manche der kurzen Szenen überzeugen, zusammen wirken sie wie ein Zettelkasten zu Balkan-Stereotypen. Ornela Vorpsi sollte sich ansehen, wie intelligent sich die aus Zagreb emigrierte Dubravka Ugresić in ihren Romanen mit der postjugoslawischen Identität beschäftigt.
Aus Zagreb stammt auch Nicol Ljubić, Jahrgang 1971. Aufgewachsen ist er in Griechenland, Schweden, Russland und Deutschland, wo Ljubić als Journalist für große Blätter wie "Stern" und "Die Zeit" arbeitet. In seinem zweiten Roman "Meeresstille" erzählt er von einer Liebe, die an einem Massaker in den jugoslawischen Kriegen zu zerbrechen droht. Ljubićs Ich-Erzähler verliebt sich in die in Berlin studierende Serbin Ana aus Višegrad. Sie macht den Historiker, der in Deutschland als Sohn eines assimilierten Kroaten aufwuchs, mit jugoslawischen Speisen, Worten und Gebräuchen bekannt, reagiert jedoch aggressiv auf Fragen nach den Kriegen.
"Meeresstille" beginnt in Den Haag. Der Erzähler verfolgt einen Prozess des Internationalen Gerichtshofes gegen einen Mann, der 43 Muslime in ein Haus in Višegrad gelockt haben soll, das seine Komplizen dann ansteckten; nur eine junge Frau überlebte das Massaker. Der Angeklagte ist, wie nach und nach deutlich wird, Anas Vater. Die Beobachtungen und Erlebnisse in Den Haag wechseln mit zärtlichen Erinnerungen an die Monate mit Ana, die abrupt mit einer Auseinandersetzung über das Nato-Bombardement von Serbien endeten. Dass Anas Vater Anglistikprofessor war, erlaubt Ljubić so sparsame wie vielsagende Shakespeare-Zitate.
Es gibt leichtere Romanstoffe. "Meeresstille" ist ein bemerkenswert ruhiges Nachdenken über die Frage, ob furchtbare Ereignisse trennen oder verbinden. Ljubić verknüpft die jüngere jugoslawische Geschichte mühelos mit der deutschen NS-Vergangenheit, und er konfrontiert Anas Sehnsucht nach Vergessen mit der Enttäuschung des Erzählers über ihr mangelndes Vertrauen.
Zugleich tritt der blinde Fleck seiner moralischen Haltung hervor, die innere und äußere Distanz zum Geschehen. Dabei lässt Ljubić seine Protagonisten nicht einmal abstrakt wirken. Wenn der Erzähler am Ende nach Sarajewo und Višegrad reist, tritt an die Stelle von juristischer und Selbstprüfung die persönliche Konfrontation mit dem Ort des Massakers. Sie bringt freilich auch keine Klarheit. Alles bleibt in der Schwebe, und das ist keine kleine Kunst.
Besprochen von Jörg Plath
Ornela Vorpsi: Die Hand, die man nicht beißt, Roman,
aus dem Italienischen von Karin Krieger,
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2010, 112 Seiten, 12,90 Euro
Nicol Ljubić: Meeresstille, Roman,
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2010, 192 Seiten, 17,00 Euro
Ihr zweites, wieder auf Italienisch verfasstes Buch "Die Hand, die man nicht beißt" erzählt von der Reise einer schönen, nach Paris emigrierten Albanerin nach Sarajewo zu einem kranken Freund. Bis zum ersten Treffen vergehen 60 der 120 Seiten, und am Ende verschwindet der Freund einfach, als wäre er nur Anlass gewesen für Vorpsis Erzählerin, sich auszulassen über den Balkan mit seinen Neidgefühlen, Betrügereien, Minderwertigkeitskomplexen, Größenwahn, dem Hass auf Ausgereiste und einiges mehr. Manche der kurzen Szenen überzeugen, zusammen wirken sie wie ein Zettelkasten zu Balkan-Stereotypen. Ornela Vorpsi sollte sich ansehen, wie intelligent sich die aus Zagreb emigrierte Dubravka Ugresić in ihren Romanen mit der postjugoslawischen Identität beschäftigt.
Aus Zagreb stammt auch Nicol Ljubić, Jahrgang 1971. Aufgewachsen ist er in Griechenland, Schweden, Russland und Deutschland, wo Ljubić als Journalist für große Blätter wie "Stern" und "Die Zeit" arbeitet. In seinem zweiten Roman "Meeresstille" erzählt er von einer Liebe, die an einem Massaker in den jugoslawischen Kriegen zu zerbrechen droht. Ljubićs Ich-Erzähler verliebt sich in die in Berlin studierende Serbin Ana aus Višegrad. Sie macht den Historiker, der in Deutschland als Sohn eines assimilierten Kroaten aufwuchs, mit jugoslawischen Speisen, Worten und Gebräuchen bekannt, reagiert jedoch aggressiv auf Fragen nach den Kriegen.
"Meeresstille" beginnt in Den Haag. Der Erzähler verfolgt einen Prozess des Internationalen Gerichtshofes gegen einen Mann, der 43 Muslime in ein Haus in Višegrad gelockt haben soll, das seine Komplizen dann ansteckten; nur eine junge Frau überlebte das Massaker. Der Angeklagte ist, wie nach und nach deutlich wird, Anas Vater. Die Beobachtungen und Erlebnisse in Den Haag wechseln mit zärtlichen Erinnerungen an die Monate mit Ana, die abrupt mit einer Auseinandersetzung über das Nato-Bombardement von Serbien endeten. Dass Anas Vater Anglistikprofessor war, erlaubt Ljubić so sparsame wie vielsagende Shakespeare-Zitate.
Es gibt leichtere Romanstoffe. "Meeresstille" ist ein bemerkenswert ruhiges Nachdenken über die Frage, ob furchtbare Ereignisse trennen oder verbinden. Ljubić verknüpft die jüngere jugoslawische Geschichte mühelos mit der deutschen NS-Vergangenheit, und er konfrontiert Anas Sehnsucht nach Vergessen mit der Enttäuschung des Erzählers über ihr mangelndes Vertrauen.
Zugleich tritt der blinde Fleck seiner moralischen Haltung hervor, die innere und äußere Distanz zum Geschehen. Dabei lässt Ljubić seine Protagonisten nicht einmal abstrakt wirken. Wenn der Erzähler am Ende nach Sarajewo und Višegrad reist, tritt an die Stelle von juristischer und Selbstprüfung die persönliche Konfrontation mit dem Ort des Massakers. Sie bringt freilich auch keine Klarheit. Alles bleibt in der Schwebe, und das ist keine kleine Kunst.
Besprochen von Jörg Plath
Ornela Vorpsi: Die Hand, die man nicht beißt, Roman,
aus dem Italienischen von Karin Krieger,
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2010, 112 Seiten, 12,90 Euro
Nicol Ljubić: Meeresstille, Roman,
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2010, 192 Seiten, 17,00 Euro