Zeugen der Shoah aus Buczacz

Vergrabene Erinnerungen

Ein Helfer trägt eine Kiste mit Erinnerungen aus einem Erdlloch unter dem Warschauer Getto. Die Fundstücke bilden den Grundstock für das Ringelblum-Archiv.
Erinnerungen aus der Tiefe: Helfer holen kistenweise Erinnerungen aus dem Versteck unter dem Warschauer Getto, Grundstock für das Ringelblum-Archiv. © picture-alliance / PAP / Wladyslaw Forbert
Von Lars Meyer und Lorenz Hoffmann · 29.01.2022
Was haben Simon Wiesenthal, Samuel Agnon und Alicia Appleman-Jurman gemeinsam? Ihre Geschichte ist verbunden mit der Stadt Buczacz in der heutigen Ukraine. Und sie gehören zu jenen Opfern, die ihre Geschichte umfangreich dokumentiert haben.
Zwischen 1944 und 1991 gehörte Buczacz zur ukrainischen Sowjetrepublik, heute ist es die Kreisstadt in der Oblast Ternopil im Westen der unabhängigen Ukraine. Die Lebenswege von Samuel Agnon, Emanuel Ringelblum, Simon Wiesenthal und Alicia Appleman-Jurman nehmen ihren Ausgangspunkt in Bucaczacz. Diese kleine kosmopolitische Stadt wurde durch das Zusammenleben von Juden, Polen und Ukrainern geprägt – und diese Bevölkerungsgruppen entwickelten ihre eigene Geschichtsschreibung.

Buczacz – „Anatomie eines Genozids“

Der Historiker Omer Bartov wurde in Israel geboren und unterrichtet heute in den Vereinigten Staaten, an der Brown University in Rhode Island. 2021 erschien sein Buch „Anatomie eines Genozids: Vom Leben und Sterben einer Stadt namens Buczacz“. Für seine umfassende Chronik der Stadt beschreibt Bartov die Dynamik vor Ort und sammelte für diese „Geschichtsschreibung von unten“ über Jahre alle Dokumente und Erfahrungsberichte, die verfügbar sind. Schnell wird ihm klar: Wer verstehen will, wie der Holocaust in einer Stadt wie Buczacz ablief, muss die Vorgeschichte der Region und das Zusammenleben der Menschen studieren.

Alicia Appleman-Jurman

Alicia Appleman-Jurman, geboren 1930, beschreibt ihre Kindheit, zunächst in einem Karpatendorf, dann in Buczacz. Sie wächst mit vier Brüdern auf, ihr Vater ist Händler und sie erhält eine doppelte Bildung: vormittags in der polnischen Schule, nachmittags in einer jüdischen Schule.
Während der deutschen Besatzung entkommt Alicia mehrmals den Massenerschießungen. Am Ende schlägt sie sich in den Wald durch, wo sie Anschluss an eine Einheit russischer Partisanen findet. Kurz darauf wird Buczacz befreit. Das Mädchen kehrt ein letztes Mal zurück in ihre Heimatstadt, um ihre Mutter zu beerdigen. Von der traditionsreichen jüdischen Stadt Buczacz ist nichts geblieben.

Samuel Agnon

Samuel Agnon, 1888 als Shmuel Yosef Czaczkes in Buczacz geboren. Sein Vater war ein chassidischer Rabbi, der vom Handel lebte und eine Frau heiratete, die zu einer entgegensetzten religiösen Gruppe gehörte, den Misnagdim, die sich dem Chassidismus widersetzten.
Schriftsteller Samuel Agnon erhielt 1966 den Nobelpreis für Literatur. Im Bild bindet ihm Mit-Gewinnerin Nelly Sachs die Fliege. Beide lächeln erfreut.
Großer Moment: Samuel Agnon mit Nelly Sachs bei der Nobelpreisverleihung im Dezember 1966. © picture alliance / ASSOCIATED PRESS
Prägend für Agnons Leben und Schreiben sollte vor allem der Einbruch der Moderne in Osteuropa sein. Politisch engagierte sich Agnon früh im sogenannten Zionisten-Club von Buczacz und ging 1908, im Alter von 20 Jahren, nach Israel, was für galizische Juden eher untypisch war. Er ging mit der zweiten Auswanderungswelle. Doch schon bald zieht es ihn nach Deutschland, berichtet der amerikanische Rabbiner und Agnon-Kenner Jeffrey Saks, „wo sich gerade ein neues jüdisches Selbstbewusstsein herausbildete und er einen fruchtbaren Austausch fand. Das war zu einer Zeit, als im deutschen Judentum die Idee erwachte, dieses fiktive Versprechen: Sie werden uns unser Jüdischsein verzeihen, wenn wir nur deutsch genug sind. Doch bald begannen sie zu begreifen, dass dies Versprechen falsch war.“

Simon Wiesenthal

1908, in dem Jahr, in dem Samuel Agnon Buczacz verließ, wurde Simon Wiesenthal geboren, in einer teilassimilierten Familie der Mittelschicht. Zu Hause wurde Jiddisch gesprochen, doch seine Mutter erzog ihn mit deutschsprachiger Literatur. Schiller, Goethe und andere Klassiker füllten das Bücherregal.
Als glühenden politischen Aktivisten muss man sich den Wiesenthal der Zwischenkriegszeit nicht vorstellen. Nachdem er in Prag Architektur studiert hatte, kehrte er nach Galizien zurück, nicht in die Provinz, sondern ins blühende Zentrum, nach Lwów auf Polnisch, Lwiw auf Ukrainisch, Lemberg auf Deutsch. Eine Stadt, die damals als heimliches Zentrum Polens galt und auch eines der bedeutendsten Zentren jüdischer Kultur war.
Der Schriftsteller und Publizist Simon Wiesenthal (1908 - 2005) in seinem Büro in Wien. Er blickt auf Unterlagen, im Hintergrund hängen gerahmte Fotos.
Begründer des gleichnamigen Dokumentationszentrums: Simon Wiesenthal, der auch als "Nazi-Jäger" bekannt wurde. © Picture-Alliance / KEYSTONE / KARL-HEINZ HUG
Er heiratete seine Schulfreundin Cyla Müller, die mit der Familie Freud verwandt war, machte sich selbstständig und eröffnete ein Architekturbüro. Wiesenthals erste berufliche Karriere endete 1939 mit dem Einmarsch sowjetischer Truppen. Erst durch die Erfahrungen des Krieges, als Überlebender des Holocaust, fand er zu seiner Lebensaufgabe: Gerechtigkeit für die ermordeten Juden zu erkämpfen.

Emanuel Ringelblum

Der acht Jahre ältere Emanuel Ringelblum, geboren 1890 in Buczacz, teilte mit Wiesenthal die Erfahrung der Flucht. 1914 floh seine Familie aus Buczacz nach Nowy Sącz in Polen. Bis dahin wuchs Ringelblum in bescheidenen, aber keineswegs ärmlichen Verhältnissen auf. Seine Mutter starb früh.
Das Verhältnis zwischen Juden und Polen wurde für ihn zum zentralen Forschungsthema, das er mit erstaunlicher Konsequenz bis zu seiner Ermordung verfolgte. Für den amerikanischen Historiker Samuel Kassow ist Ringelblum gleich in mehrfacher Hinsicht ein Vorbild. In die Geschichte ging er als Gründer des Warschauer Untergrundarchivs ein. In seinem Buch „Ringelblums Vermächtnis: Das geheime Archiv des Warschauer Ghettos“ zeichnet Kassow minutiös Ringelblums Lebensweg nach und macht sein geistiges Erbe erfahrbar.

Ausbruch des Zweiten Weltkriegs

Den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs erleben Alicia Appleman-Jurman, Samuel Agnon, Simon Wiesenthal und Emanuel Ringelblum an sehr unterschiedlichen Orten. Agnon wohnt seit vielen Jahren mit seiner Familie in Jerusalem, fernab vom Geschehen in Europa. Simon Wiesenthal und seine Frau Cyla leben in Lemberg. Sie erleben den Kriegsbeginn aus verschiedenen Perspektiven.
Der Historiker und zionistische Aktivist Emanuel Ringelblum lebt in Warschau und gründet im Warschauer Getto das geheime Untergrundarchiv Oneg Schabbat. Ihm verdanken wir heute das meiste authentische Wissen über das Leben im Getto.
Alicia Appleman-Jurman, 1930 geboren, überlebt als einziges Familienmitglied den Holocaust in Buczacz und schreibt später in den USA ein biografisches Buch darüber. Ihr Leben widmet sie der Idee, dass aus den Schrecken der Geschichte eine Lehre gezogen werden soll.

Herrscher über Leben und Tod

Viele am Morden beteiligte Deutsche geben unumwunden ihre Taten zu, ohne eine Spur von Bedauern. Aufgrund von Zeugenberichten schreibt Bartov: „Ihr Vergnügen, ihren Lustgewinn beziehen sie in erster Linie aus der Tatsache, dass sie die volle Macht über Leben und Tod haben. Sie machen also nicht nur, was offenbar getan werden muss. Es macht auch noch Spaß. Und es macht Spaß, weil du die totale Macht hast. Nicht totale Macht im existenziellen Sinne, sondern in diesen kleinen Kontexten, in dem kleinen Arbeitslager nebenan, auf der Straße, in der Stadt, in der du stationiert bist. Du kannst tun, was du willst. Du kannst Leuten in den Kopf schießen, du kannst Babys an die Wand schlagen, du kannst Frauen vergewaltigen. Du kannst tun, was immer du willst, es gibt niemanden, der dir etwas vorschreibt. Und in einem größeren Zusammenhang gesehen, tust du damit genau das, was von dir erwartet wird.“

Geheimarchiv Oneg Schabbat aus dem Warschauer Getto

David Graber war 19 Jahre alt, als er seine Botschaft an die Nachwelt auf einen Zettel schrieb. Er gehörte zur sogenannten technischen Abteilung von Emanuel Ringelblums Geheimarchiv Oneg Schabbat und war einer von drei Mitarbeitern, die in den letzten Juli- und ersten Augusttagen 1942 Fotografien, Manuskripte und Dokumente in Kisten und Metallkannen verpackten und vergruben.
Am 18. September 1946, beginnt ein kleiner Suchtrupp in der Ruine des ehemaligen Wohnhauses Nowolipki-Straße 68, Schutt beiseite zu räumen und vorsichtig in die Tiefe zu graben. Das einstige Getto ist ein einziges Trümmerfeld. Entsprechend schwer war es, den Ort überhaupt wieder zu finden, an dem das Oneg Schabbat vergraben ist. Die Schriftstellerin Rachel Auerbach ist eine der wenigen Mitarbeiterinnen Emanuel Ringelblums, die den Holocaust überlebt hat und weiß, wo sich das Archiv befindet.
Zehn Blechkisten, lehmverschmiert und mit Bindfaden fest verschnürt, finden die Ausgräber an diesem 18. September 1946 im Erdreich unter den Trümmern des Hauses Nowolipki 68. Vier Jahre später werden Bauarbeiter an der gleichen Adresse auf weitere Teile des Archivs stoßen, verpackt in zwei großen Milchkannen. Insgesamt sind es 1.680 Dokumente, die zusammen etwa 25.000 Seiten umfassen. Melde- und Lebensmittelkarten, Arbeitsscheine, Statistiken. Öffentliche Aushänge mit Befehlen der deutschen Besatzer.
Die erhaltenen Teile des Geheimarchivs Oneg Schabbat werden seit 1950 im Jüdischen Historischen Institut in Warschau aufbewahrt und ausgewertet. Bis heute gelten sie unter Historikern als wichtigste Quellen zur Erforschung der jüdischen Alltagsgeschichte im Warschauer Getto. Seit 1999 gehört das 25.000 Seiten umfassende Material auch zum Weltdokumentenerbe der UNESCO.

Im Strudel der Verzweiflung

Am 23. März 1944 befreit die Rote Armee Buczacz zum zweiten Mal – und diesmal endgültig – von den deutschen Besatzern. Alicia Appleman-Jurman, die nach dem Tod der Mutter aus Buczacz in die Wälder geflohen ist und sich einer Partisaneneinheit angeschlossen hat, beschließt, noch einmal in ihre Heimatstadt und zur alten Wohnung ihrer Familie zurückzukehren, vor allem um die sterblichen Überreste ihrer Mutter auf dem jüdischen Friedhof zu begraben.
Anfang 1945 verlässt Alicia Appleman-Jurman Buczacz und geht Richtung Westen, in die kleine Stadt Bielsko bei Krakau, das inzwischen von der Roten Armee erobert wurde. In Bielsko fallen ihr die vielen jüdischen Kinder auf, die zerlumpt und hungrig durch die Straßen irren, Waisenkinder, die die Vernichtungslager überlebt haben. Alicia, selbst erst 15 Jahre alt, nimmt sich ihrer an, tröstet sie, wenn sie Albträume haben und organisiert Kleidung und Essen.
Omer Bartov hat Alicia Jurman-Appleman für sein Buczacz-Buch „Anatomie eines Genozids“ interviewt. Falls ich überleben und diesem Strudel des Leids und der Verzweiflung entrinnen sollte, dann würde ich den Menschen, die wie ich überlebt hatten, die Hand reichen müssen und irgendwann in der Zukunft vielleicht sogar allen Menschen. Ich würde nicht weiterhin hassen können, weil ich trotz meiner Jugend wusste, dass der Hass mich letzten Endes zerstören konnte.“

Literatur:
Alicia Appleman-Jurman: Alicia, ‎TBS The Book Service Ltd., 15. Juni 1989
Samuel Agnon: In der Mitte ihres Lebens, Novelle, 1921
Emanuel Ringelblum: Ghetto Warschau: Tagebücher aus d. Chaos, 2018
Simon Wiesenthal: Ich jagte Eichmann. Tatsachenbericht. S. Mohn Verlag, Gütersloh 1961
Omer Bartov: Anatomie eines Genozids. Vom Leben und Sterben einer Stadt namens Buczacz, Suhrkamp / Jüdischer Verlag, 2021
Samuel D. Kassow: Ringelblums Vermächtnis: Das geheime Archiv des Warschauer Ghettos, Rowohlt Verlag, 2010

Eine Produktion von Deutschlandfunk Kultur 2022. Das Skript zur Sendung finden Sie hier.
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