Bibelforscher mit vielen Privilegien
Vor zehn Jahren haben die Zeugen Jehovas erstmals in Berlin den Status der Körperschaft öffentlichen Rechts erhalten. Sie dürften also Kirchensteuer einziehen und Religionsunterricht geben. Aber sie verfolgen andere Ziele.
Mittagspause in der Deutschlandzentrale der Zeugen Jehovas in Selters im Taunus. An den langen Esstischen sitzen mehrere Hundert Zeugen Jehovas, essen und plaudern miteinander. Sie leben und arbeiten in Selters. Gemeinsame Mahlzeiten gehören dazu. Nach dem Essen ein Spaziergang mit Andreas Golec über das weitläufige Gelände.
"Wo wir jetzt herkommen, das ist das Zentralgebäude. Da sind der Speisesaal und auch viele Büros drin."
Dazu eine Druckerei für die Zeitschrift der Wachtturm. Die weitverbreitetste Zeitschrift der Welt.
"Und dann haben wir noch neun Wohngebäude, in denen dann die circa 900 Leute wohnen."
Andreas Golec dient, wie er es nennt, seit zwei Jahren in Selters. Gehalt gibt es nicht. Dafür ein Taschengeld, eine kleine Einzimmerwohnung und das Gefühl, zur großen Zeugen Jehovas-WG zu gehören. Gemeinschaft ist den rund 180.000 Zeugen Jehovas in Deutschland wichtig.
Strenge Bibelauslegung, eine weltweite, eingeschworene Gemeinschaft, gesteuert von der leitenden Körperschaft in den USA. Damit haben die Zeugen Jehovas viel gemein mit anderen charismatischen oder evangelikalen Christen. Aber weil die Zeugen Jehovas beispielsweise Bluttransfusionen ablehnen und Aussteiger meiden sollen, gelten sie vielen als gefährliche Sekte.
Wegen solcher Vorwürfe ist den Zeugen Jehovas der Status als Körperschaft des öffentlichen Rechts wichtig, sagt Benjamin Menne, Leiter der Rechtsabteilung in Selters. Ihnen geht es um rechtliche Sicherheit.
"Da eben viele Regeln des Wirkens in der Öffentlichkeit auch mit diesem Status verbunden sind, also wenn man mit Behörden spricht, wenn man mit Amtsträgern spricht, dann ist es eben ein Unterschied, ob ich als Verein auftrete oder als Körperschaft öffentlichen Rechts. Dadurch ergeben sich sachlichere Gesprächssituationen. Und die können wir auch in der Praxis so erkennen."
Diskriminiert in der DDR
In der DDR waren die Zeugen Jehovas eine eingetragene Religionsgemeinschaft, in der Bundesrepublik nur nach Vereinsrecht organisiert. Nach der Wiedervereinigung kämpften sie zwölf Jahre für den Körperschaftsstatus. 2006 in Berlin zum ersten Mal verliehen, ist er eine späte Genugtuung. Weil sie Hitler den Treue-Eid verweigerten, wurden die Zeugen Jehovas im Dritten Reich verfolgt. Sie zählten zu den ersten, die die Nazis in Konzentrationslager schickten. Nach Kriegsende wurden viele Zeugen Jehovas in der DDR diskriminiert, weil sie den Militärdienst verweigerten.
"Unsere Religionsgemeinschaft hat ja eine schwierige Geschichte, was das Leben in Deutschland betrifft, hat, was auch meine Familie betrifft, große Leiden hinter sich, und unser rechtliches Wirken soll ja auch dazu beitragen, dass unsere Großeltern, wir als Elterngeneration und auch unsere Kinder und Nachkommen ein möglichst spannungsfreies Leben hier in der Gesellschaft haben."
Von vielen Privilegien des Körperschaftsstatus machen die Zeugen Jehovas allerdings keinen Gebrauch. Nach ihrer Lehre sind Religion und Staat klar getrennt. Den Eindruck, eine Art Staatskirche zu sein, wollen sie daher auf alle Fälle vermeiden. Deshalb ist zum Beispiel eine Kirchensteuer, also eine Art Zwangs-Mitgliederbeitrag, für die Zeugen Jehovas tabu. Und auch schulischen Religionsunterricht bieten sie nicht an.
Ein warmer Frühsommerabend im Historischen Museum in Frankfurt. Rund 400 Menschen drängeln sich im Saal. Die Veranstaltung der Zeugen Jehovas zum Thema Religionsfreiheit ist vollkommen überlaufen.
"Ich kann versprechen, das wird heute ein sehr spannender Abend. Heiß ist er schon."
Prominenter Gast des Abends ist Gerhard Besier, Theologe und Historiker, ehemaliger Professor an deutschen Universitäten und der Stanford University. Für die Zeugen Jehovas hat Besier in den Neunzigern wohlwollende Gutachten verfasst.
"Ich muss sagen, ich bin in den Vereinigten Staaten sozialisiert und Religionsfreiheit hat für mich einen besonderen Stellenwert."
Die Gerichtsprozesse um den Körperschaftsstatus waren, wie Besier sagt, ein Prüfstein für die Demokratie.
"Ich hab es nicht fassen können, welche Geschichten, Skandalgeschichten, man über Jehovas Zeugen verbreitet hat, und dafür gibt es keinen Grund. Es ist gar keine Frage, dass sie in allen Subkulturen Deutschlands immer Einzelne finden. Stellen Sie sich vor, man würde als Kriterium bei der katholischen Kirche Missbrauch von Knaben nehmen, dann wäre diese Kirche ein für alle Mal unten durch – es sind Minderheiten."
Den Zeugen Jehovas wurde vieles vorgeworfen: systematischer Kindesmissbrauch, Gewalt gegen Aussteiger oder sogar verfassungsfeindliche Umtriebe. Juristisch alles nicht haltbar.
"Ich glaube, der Rechtsstreit, der von den Gerichten ja ziemlich eindeutig entschieden wurde, der zeigt die ganze Problematik der Spannung zwischen einerseits dem Anspruch der Religionsfreiheit und dass etablierte Religionsgemeinschaften durchaus diesen Körperschaftsstatus erlangen können."
Sagt der Religionswissenschaftler Oliver Krüger von der Universität Fribourg in der Schweiz…
"Und andererseits einer theologischen Bewertung. Und diese theologische Bewertung von einigen Positionen, die die Zeugen Jehovas einnehmen, die ist eigentlich durch die Religionsfreiheit gedeckt, ob das nun einigen passt oder nicht. Also man kann juristisch keine Glaubensansichten bewerten."
Mehr Akzeptanz für Zeugen Jehovas
Wochenend-Zusammenkunft der Zeugen Jehovas im Industriegebiet von Koblenz. Eine ehemalige Kfz-Werkstatt ist der Versammlungsort – oder, wie es hier heißt: der Königreichsaal. Der Gottesdienst findet zeitgleich und inhaltlich identisch in ganz Deutschland statt. Gesang, Gebet, Studium des vorgegebenen Wachtturmartikels, inklusive der bereits unter dem Artikel vermerkten Fragen.
"Mein Name ist Ingo Fey, ich bin Teil der Gemeindeseelsorger."
Fey – wie alle Männer hier in Anzug und Krawatte – beobachtet, dass sich das Verhältnis der Mehrheitsgesellschaft zu den Zeugen Jehovas verändert.
"Interessanterweise muss ich sagen, hat sich das in den letzten Jahren zum Positiven gewandelt. Die Akzeptanz nimmt eigentlich eher wieder zu. Das war also eine Entwicklung, die mich selber auch ein bisschen überrascht hat, weil ich jetzt auch schon seit über 30 Jahren Zeuge Jehovas bin und auch am Anfang sehr stark Gegenwind verspürt habe, aber in den letzten vier, fünf Jahren ist das wirklich sehr viel besser geworden."
Die öffentliche Aufmerksamkeit im Zuge der Körperschafts-Prozesse hat dafür gesorgt, dass sich die Zeugen Jehovas in einigen Bereichen geöffnet haben. Sie beschäftigen sich heute weniger mit dem Weltenende und dafür mehr mit ihrer deutschen Geschichte. Die Gemeindeältesten sind vielerorts jünger und die Gemeinden damit offener geworden. Der Umgang mit Aussteigern weniger streng. Und immer öfter diskutieren ehemalige und aktive Zeugen Jehovas Glaubensfragen frei im Internet – sehr zum Ärger vieler Ältesten. Dabei sind es gerade solche Veränderungen, von denen die Zeugen Jehovas profitieren.