Zeugnis der Empörung

08.04.2009
Als Fluchthelfer schleuste Wolfgang Welsch zu DDR-Zeiten gut hundert DDR-Bürger aus ihrem Staat. Zwei Mal verbüßte er deswegen eine Haft in Gefängnissen des DDR-Staatsicherheitsdienstes. Der promovierte Soziologe liefert Fallgeschichten aus den Zonen der totalitären Niedertracht.
Der Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern, Erwin Sellering (SPD), findet, die DDR sei "kein totaler Unrechtsstaat" gewesen, in dem es "kein bisschen Gutes" gegeben habe. Das hat zwar niemand behauptet. So wenig wie jemals einer gesagt hat, es gebe "eine kollektive Schuld der DDR-Bürger", was Sachsens CDU-Generalsekretär Michael Kretschmer jüngst energisch verneinte. Aber darauf kommt es bei diesen "Richtigstellungen" der jüngsten Zeit ja auch gar nicht an. Sie scheinen vielmehr darum bemüht, die DDR 20 Jahre nach ihrem Einsturz nicht allzu schlecht dastehen zu lassen.

Der Rechtsprofessor Heiner Lück von der Universität Halle geht nur ein bisschen weiter, wenn er sagt, die DDR sei "eine historische Erscheinungsform des Rechtsstaates unter vielen" gewesen. Kein totaler Unrechtsstaat, keine kollektive Schuld, ein Rechtsstaat unter vielen – so funktioniert das Spiel "stille Post".

Das Buch von Wolfgang Welsch über die verklärte DDR-Diktatur ist geeignet, dieses Spiel zu unterbinden. Nicht, weil das Buch klug geschrieben wäre: Welsch ist maßlos im Stil, wiederholt sich, vermischt ständig Themen, die man besser trennen würde, fällt sich ständig ins Wort. Auch als historische Arbeit hat diese Abhandlung über Staatsverbrechen der DDR und ihre Deutung durch den Westen, die Opposition in der DDR sowie die Nachwendezeit hundert Mängel. Welsch zitiert, ohne Quellen anzugeben, trennt Deutung nie von Polemik, interessiert sich nur selten dafür, wann und in welchem Kontext etwas gesagt wurde. Und die ständigen Vergleiche der DDR mit dem Nationalsozialismus verwendet Welsch ganz unkontrolliert: "Ob braun oder rot: Es galt das ‚Führerwort’", so als seien die Regime ausgerechnet in ihrer Spitze einander ähnlich gewesen.

Nein, das ist kein historisch kühles, kein vor dem Weltgericht verwendbares, kein um begriffliche und empirische Klärung bemühtes Buch. Warum es das nicht ist, erklärt sich leicht. Wolfgang Welsch war Fluchthelfer. Zuvor hatte er zweimal Haft in Gefängnissen des DDR-Staatsicherheitsdienstes verbüßt, 1964 wegen "Republikflucht", 1967 wegen Vorbreitung eines Dokumentarfilms über die DDR. Er wurde gefoltert, zum Schein hingerichtet und 1971 freigekauft.

Im Westen studierte er, promovierte in Soziologie und schleuste gut hundert DDR-Bürger aus ihrem Staat. Die Staatssicherheit versuchte mehrfach, ihn zu ermorden. Der betreffende IM wird 1994 zu sechseinhalb Jahren Haft verurteilt, sein Führungsoffizier erhängt sich im Gefängnis von Moabit. In seiner 2001 erschienenen Autobiographie "Ich war Staatsfeind Nr.1" hat Welsch von diesem mitunter nahezu unglaublichen Schicksal in der Welt des Kalten Krieges, des Verrats und des Unrechts berichtet.

Jetzt schreibt er die Geschichte des Widerstands in der DDR aus seiner Sicht auf. Dabei unterscheidet er den echten Widerstand, für den er und die Seinen standen, vom für ihn nur unechten, nur scheinbaren, beispielsweise der Bürgerbewegung in den späten achtziger Jahren. Wer auch nur den geringsten Kontakt zum Regime unterhielt oder sich irgendwann einmal für den Kommunismus erwärmen konnte, kommt für Welsch bloß noch als Gegner in Betracht.

Welsch listet auf, wie im Westen die DDR geschönt dargestellt wurde und kontrastiert jeden Euphemismus mit Berichten über die Staatsverbrechen des Sozialismus, die Erziehung zum Klassenhass, die Rechtsbeugung, die Ideologieproduktion, die Morde an der Grenze und in den Gefängnissen. So liest man zwischen Einlassungen zum Marxismus, zur Stasi als Organisation und zum westlichen Versagen Dutzende von Fallgeschichten aus den Zonen der totalitären Niedertracht. Jede einzelne davon würde genügen, um das Wort vom Rechtsstaat unter vielen verlogen zu finden. Ob Welsch mit der Art, wie er diese Anklage führt, seiner Sache einen Dienst erwiesen hat, muss dahingestellt bleiben.

Das Buch ist ein Zeugnis - ein Zeugnis der Empörung, keine Analyse. Doch wer wollte jemandem mit einer solchen Lebensgeschichte und angesichts dieses Themas vorwerfen, nicht abgeklärt zu sein? So lange Leute herumlaufen und sagen, so schlimm sei es nun auch wieder nicht gewesen, muss man für solche Zornausbrüche dankbar sein.

Rezensiert von Jürgen Kaube

Wolfgang Welsch: Die verklärte Diktatur. Der verdrängte Widerstand gegen den SED-Staat,
Helios Verlag, Aachen 2009, 306 Seiten, 24,80 Euro