ZHAO Tingyang: "Alles unter dem Himmel. Vergangenheit und Zukunft der Weltordnung"
Aus dem Chinesischen von Michael Kahn-Ackermann
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020
266 Seiten, 22 Euro
Weltfrieden auf chinesisch
05:40 Minuten
Hierarchisch strukturiert wie eine chinesische Familie: So sieht die Weltordnung aus, die dem Philosophen Zhao Tingyang vorschwebt. Die Lektüre seines neuen Buchs findet Tobias Wenzel "ernüchternd". Der Philosoph misstraue dem Volk und der Demokratie.
"Natürlich ist es eine etwas idealistische Theorie. Aber wenn wir sie nicht umsetzen, zerstören wir die Welt", sagt Zhao Tingyang.
Der Philosoph will die Welt retten mit Tianxia, einem chinesischen Begriff, der in etwa "Alles unter dem Himmel" bedeutet. Wenn Menschen das Prinzip des nichts ausgrenzenden Tianxia befolgen, glaubt Zhao, entsteht eine Welt ohne Nationalstaaten und Feindseligkeit.
Kants Entwurf zur Befriedung der Welt – sein Text "Zum ewigen Frieden" beeinflusste die Charta der Vereinten Nationen maßgeblich – ist Zhao zufolge dagegen "untauglich". Kant setze nämlich dieselben Wertvorstellungen, also ihre universelle Geltung in unterschiedlichen Kulturen voraus. Gleichheit ist für Zhao eine Illusion. Die Menschenrechte seien problematisch, weil nicht von Natur gegeben. Und für Demokratie seien die Menschen schlicht zu egoistisch.
"Die moderne Demokratie ist gerade dabei, ihre denkbar schlechteste Form anzunehmen", sagt Zhao Tingyang. "Die Medien und starke Parteien bestimmen die öffentliche Meinung und beeinflussen die Gedanken der Menschen, damit sie die Welt falsch verstehen. Das ist nicht mehr demokratisch, das ist eine Art Despotismus."
Der Hype um Zhao Tingyang ist erklärungsbedürftig
Es klingt nach Verschwörungstheorie, auch, wenn er im Buch von der "neuen Macht" schreibt, die die Demokratie "umgemogelt" habe. Da fragt man sich schon, wie der Hype um Zhao Tingyang zu erklären ist. Etwa damit, dass in politisch angespannten Zeiten Menschen fasziniert sind von jemandem, der mit seinem Denken die Welt retten will?
Die Lektüre des Buchs ist jedenfalls ernüchternd. Anstatt auszuarbeiten, wie dank Tianxia alle friedlich koexistieren könnten, wiederholt Zhao den Begriff mantraartig, fast 600 Mal. Immerhin macht er klar, dass ihm eine Weltordnung vorschwebt, die wie eine chinesische Familie hierarchisch strukturiert ist. Stefan Gosepath, Professor für Praktische Philosophie an der FU Berlin, ist unwohl bei diesem antidemokratischen Ansatz. Der komme der chinesischen Führung aber gerade recht:
"China ist eine Weltmacht, die jetzt durch die Tatsache, dass die USA sich unilateral zurückzieht und nicht mehr welthegemoniale Ansprüche erheben will unter Trump, auf einmal in dieses Vakuum stößt. Und jetzt tut sie das genau unter der Verwendung dieses Konzepts 'Alles unter dem Himmel'. Und er ist in gewisser Weise der Philosoph an der Chinese Academy of Science, also der staatlich alimentierten Akademie, der genau dieses Konzept entwickelt hat."
Misstrauen gegenüber dem Volk
Ist Zhao Tingyang also nur ein linientreuer Philosoph, der die chinesische Staatsdoktrin propagiert? Fragen zur aktuellen Politik, ob zu Expansionsbestrebungen Chinas, zum Handelsstreit mit den USA oder zur Menschenrechtslage, beantwortet er nicht. Er sei ja nur Theoretiker:
"Die Wirklichkeit ist viel zu kompliziert und zu detailreich. Ich habe nicht genug Informationen darüber, was passiert. Selten gehe ich nach draußen. Ich halte also Abstand zur Wirklichkeit."
Ob das Selbstbild vom kauzigen Einsiedler stimmt oder nur ein Vorwand ist, um politische Äußerungen und mögliche Probleme zu Hause in China zu vermeiden, sei einmal dahingestellt. Sicher aber ist, dass Zhaos Buch kein großer Wurf ist. "Alles unter dem Himmel" wirkt nicht wie ein erhellendes, für die Befriedung der Welt praktikables Prinzip, sondern gerade aufgrund des alles einschließenden Charakters wie ein leeres Zauberwort. Was bleibt, ist das Misstrauen gegenüber dem Volk und ein hierarchisches Modell, das, so Stefan Gosepath, auf einen "weisen Staatenlenker" setzt:
"Wenn man das jetzt auch noch auf die Welt übertragen soll, und ich glaube, das steckt dahinter, China nachher als die Weltmacht, die die Welt regiert, dann wissen wir natürlich, dass wir diejenigen sind, die geführt werden sollen. Zu unserem Besten. Aber was unser Bestes ist, dürfen wir nicht mitbestimmen. Damit habe ich ein Problem."
Mittlerweile – das findet sich allerdings nicht mehr in der deutschen Ausgabe des Buchs – will Zhao das Volk nur noch teilweise entmündigen. Ihm schwebt als Staatsform eine Mischung aus Demokratie und Aristokratie vor. Das Volk stimme in einer ersten Wahl darüber ab, was es alles wolle. Danach würden ein natur- und ein geisteswissenschaftliches Komitee entscheiden, was davon das Volk tatsächlich bekomme. Auf die zentrale Frage, wer die Wissenschaftler auswählt und nach welchen Kriterien, hat Zhao allerdings noch keine Antwort. Aber es bleibt ihm ja noch Zeit zum Nachbessern unter diesem Himmel.