Ziel drogenfreies Leben
Fast vier Millionen Süchtige gibt es in Deutschland - rund fünf Prozent der Bevölkerung, die Raucher nicht einmal mitgezählt. Zur stofflichen Abhängigkeit kommt die Scham. Trotzdem ist es möglich, sich aus dem Teufelskreis zu befreien. In ihrem Buch "Jeder kriegt die Kurve anders" hat Brigitte Roth Lebensgeschichten von Menschen recherchiert, die das geschafft haben.
Es ist schwierig, sich aus der Umklammerung einer Sucht zu befreien, sehr schwierig sogar. Aber die Befreiung ist - selbst nach mehreren Jahrzehnten schwerster Abhängigkeit - noch immer möglich. So lautet die Botschaft des Buches "Jeder kriegt die Kurve anders" von Brigitte Roth. Die Germanistin und Sportwissenschaftlerin schreibt seit 15 Jahren bei der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" über Medizin- und Gesundheitspolitik. Im Vorwort erklärt die Autorin, sie habe - nach all den Storys über das Elend der Drogensucht - einmal ein Buch schreiben wollen, das Hoffnung macht.
Die von Brigitte Roth notierten und anonymisierten Lebensgeschichten zeigen, wie fließend die Übergänge sind zwischen "ein bisschen", "ein bisschen viel" und starker Abhängigkeit. Niemand kann für sich in Anspruch nehmen, immun zu sein gegen die Ängste und Sorgen, die einen Menschen in die Sucht treiben. Letztlich ist es immer überforderte menschliche Sensibilität, die den Griff zur Flasche, zur Pille oder zur Spritze als beste Lösung erscheinen lässt, mit dem Leben weiter klar zu kommen.
Da ist der ehrgeizige Arzt, der sein Studium mit Nachtwachen finanziert, 15 Nächte im Monat aus dem Krankenhaus direkt in den Hörsaal ohne eine Stunde Schlaf. Als er seine eigene Praxis eröffnet, hat er schon Jahre der Überforderung hinter sich - und hält die Belastung durch Schulden, Patientenleid und Familiengründung nicht mehr aus. Aus einem Beruhigungsschnaps am Abend wird eine Flasche Wodka am Tag.
Da ist die Krankenschwester, die sich in einen drogensüchtigen Mann verliebt - und sich so in ihm verstrickt, dass auch sie anfängt zu fixen. Ein jahrelanges Doppelleben ist die Folge - Krankenschwester auf einer Intensivstation in der Nacht, tagsüber den süchtigen Mann versorgen, anschaffen gehen und dealen.
Da ist das Mädchen, das sich in ihrer Klassengemeinschaft nicht zurecht findet und anfängt, den Supermarkt leer zu kaufen und gigantische Essensportionen zu verschlingen. Täglich landen mehrere zehntausend Kilokalorien unverdaut in der Toilettenschüssel.
Und da ist der Schüler, der den frühen Verlust des Vaters an seiner Mutter abarbeitet und sie mit seiner Drogensucht erpresst und terrorisiert.
Brigitte Roth arbeitet heraus, welche Gemengelage an seelischer Not, ahnungslosem oder koabhängigem Umfeld, Selbstbetrug und scheinbarem Mangel an Alternativen hinter jeder Suchtbiografie steht.
Und die Autorin zeigt: Der Weg aus der Sucht gelingt nur dann, wenn Menschen sich ihrer Fähigkeiten wieder besinnen - ihrer Vertrauenswürdigkeit, ihrer Bereitschaft zum Verzicht, ihrer Möglichkeit, aufrichtige Bindungen einzugehen, ihres Mutes, nein zu sagen oder eigene Grenzen offen einzuräumen. Kaum einer der Süchtigen, die Brigitte Roth beschreibt, schaffte das drogenfreie Leben im ersten Anlauf. Suchtkranke pendeln oft jahrelang zwischen Entzug und Rückfall, bevor ihnen in einer finalen Krise oder einem letzten großen Erkenntnissprung die endgültige Loslösung von der Droge gelingt.
Brigitte Roths Buch stimmt tatsächlich hoffnungsvoll - ohne zu beschönigen. So brutal die Sucht ist, so hart ist der Weg aus der Sucht, für die Betroffenen selbst und für ihre Freunde und Angehörigen. Das Buch ist kein Ratgeber im klassischen Sinne, der mit Adressen und Checklisten aufwarten würde. Es ist übrigens auch keine große Literatur und kommt sprachlich etwas bieder daher.
Die Stärke und Überzeugungskraft von "Jeder kriegt die Kurve anders" liegt darin, dass die Autorin das Leben selbst erzählen lässt: was es bedeutet, süchtig zu sein, und welche Kräfte Menschen mobilisieren können, wenn sie mit dem Rücken an der Wand stehen und gezwungen sind, sich für ein Leben in Würde zu entscheiden.
Rezensiert von Susanne Billig
Brigitte Roth: Jeder kriegt die Kurve anders. Lebenswege von Süchtigen mit Happy End
Ueberreuter Verlag, Wien 2007, 191 Seiten, 19,95 Euro
Die von Brigitte Roth notierten und anonymisierten Lebensgeschichten zeigen, wie fließend die Übergänge sind zwischen "ein bisschen", "ein bisschen viel" und starker Abhängigkeit. Niemand kann für sich in Anspruch nehmen, immun zu sein gegen die Ängste und Sorgen, die einen Menschen in die Sucht treiben. Letztlich ist es immer überforderte menschliche Sensibilität, die den Griff zur Flasche, zur Pille oder zur Spritze als beste Lösung erscheinen lässt, mit dem Leben weiter klar zu kommen.
Da ist der ehrgeizige Arzt, der sein Studium mit Nachtwachen finanziert, 15 Nächte im Monat aus dem Krankenhaus direkt in den Hörsaal ohne eine Stunde Schlaf. Als er seine eigene Praxis eröffnet, hat er schon Jahre der Überforderung hinter sich - und hält die Belastung durch Schulden, Patientenleid und Familiengründung nicht mehr aus. Aus einem Beruhigungsschnaps am Abend wird eine Flasche Wodka am Tag.
Da ist die Krankenschwester, die sich in einen drogensüchtigen Mann verliebt - und sich so in ihm verstrickt, dass auch sie anfängt zu fixen. Ein jahrelanges Doppelleben ist die Folge - Krankenschwester auf einer Intensivstation in der Nacht, tagsüber den süchtigen Mann versorgen, anschaffen gehen und dealen.
Da ist das Mädchen, das sich in ihrer Klassengemeinschaft nicht zurecht findet und anfängt, den Supermarkt leer zu kaufen und gigantische Essensportionen zu verschlingen. Täglich landen mehrere zehntausend Kilokalorien unverdaut in der Toilettenschüssel.
Und da ist der Schüler, der den frühen Verlust des Vaters an seiner Mutter abarbeitet und sie mit seiner Drogensucht erpresst und terrorisiert.
Brigitte Roth arbeitet heraus, welche Gemengelage an seelischer Not, ahnungslosem oder koabhängigem Umfeld, Selbstbetrug und scheinbarem Mangel an Alternativen hinter jeder Suchtbiografie steht.
Und die Autorin zeigt: Der Weg aus der Sucht gelingt nur dann, wenn Menschen sich ihrer Fähigkeiten wieder besinnen - ihrer Vertrauenswürdigkeit, ihrer Bereitschaft zum Verzicht, ihrer Möglichkeit, aufrichtige Bindungen einzugehen, ihres Mutes, nein zu sagen oder eigene Grenzen offen einzuräumen. Kaum einer der Süchtigen, die Brigitte Roth beschreibt, schaffte das drogenfreie Leben im ersten Anlauf. Suchtkranke pendeln oft jahrelang zwischen Entzug und Rückfall, bevor ihnen in einer finalen Krise oder einem letzten großen Erkenntnissprung die endgültige Loslösung von der Droge gelingt.
Brigitte Roths Buch stimmt tatsächlich hoffnungsvoll - ohne zu beschönigen. So brutal die Sucht ist, so hart ist der Weg aus der Sucht, für die Betroffenen selbst und für ihre Freunde und Angehörigen. Das Buch ist kein Ratgeber im klassischen Sinne, der mit Adressen und Checklisten aufwarten würde. Es ist übrigens auch keine große Literatur und kommt sprachlich etwas bieder daher.
Die Stärke und Überzeugungskraft von "Jeder kriegt die Kurve anders" liegt darin, dass die Autorin das Leben selbst erzählen lässt: was es bedeutet, süchtig zu sein, und welche Kräfte Menschen mobilisieren können, wenn sie mit dem Rücken an der Wand stehen und gezwungen sind, sich für ein Leben in Würde zu entscheiden.
Rezensiert von Susanne Billig
Brigitte Roth: Jeder kriegt die Kurve anders. Lebenswege von Süchtigen mit Happy End
Ueberreuter Verlag, Wien 2007, 191 Seiten, 19,95 Euro