Grenzbereich Theater

Der Zirkus erfindet sich neu

05:31 Minuten
Auf den Schultern von fünf nebeneinanderstehenden Männern steht jeweils eine Frau.
In „Humans 2.0“ des australischen Circa Ensembles türmen sich Performer zu einer menschlichen Pyramide. © Pedro Greig
Von Tom Mustroph · 13.11.2021
Audio herunterladen
Zusammenhängende Erzählungen und eine Abkehr vom Nummernprogramm - so zeichnet sich der Neue Zirkus aus. In Frankreich hat sich die Kunstform bereits durchgesetzt, hierzulande steht er noch in den Startlöchern.
Die Fete de la Musique kennt man. Jetzt kommt, ebenfalls mit Ursprüngen in Frankreich „La Nuit du Cirque“. „La Nuit du Cirque“ - die Nacht des Zirkus dauert sogar drei Nächte, von Freitag bis Sonntag. Sie umfasst 220 Events in 15 Ländern.
In Deutschland wird sie als Festival unter dem Namen „Zeit für Zirkus“ veranstaltet. Alice Greenhill, selbst gelernte Artistin, organisiert es. „Das Festival findet in diesem Jahr zum ersten Mal statt. Und die Idee ist, eine bundesweite Plattform zu schaffen.“
19 Spielstätten in 13 Städten beteiligen sich, unter anderem La Strada in Bremen, das Lofft in Leipzig, der Open Space Bochum und das Berliner Chamäleon. Hier ist das australische Circa Ensemble zu Gast.
In „Humans 2.0“ türmen sich elf Performer zu menschlichen Pyramiden. Sie werfen sich in die Luft. Mal fangen sie sich auf, mal verpassen sie sich absichtlich. Es ist eine imposante Bild- und Bewegungsshow über menschliches Gruppenverhalten.

Abkehr vom klassischen Zirkus

 Der Neue Zirkus ist ein junges und interdisziplinäres Genre.
„Ganz viele Tanzelemente fließen ein. Es fließt auch mal Sprechtheater ein. Es fließt Musik ein, verschiedene Zirkusdisziplinen“, erklärt Leonie Grützmacher. Sie ist Co-Organisatorin von Zeit für Zirkus. Für sie zeichnet sich der Neue Zirkus durch zusammenhängende Erzählungen und eine Abkehr vom Nummernprogramm des klassischen Zirkus aus.
„Es geht nicht immer unbedingt darum, zum Beispiel bei Jonglage, möglichst viele Objekte in die Luft zu halten und so eine Dramaturgie zu haben, dass es immer mehr Objekte werden während einer Nummer.“

Ein Kind der 68er

Dem Neuen Zirkus wohnt also eine Kritik am endlosen Wachstum inne. Historisch gesehen ist er ein Kind der 68er in Paris, erzählt die gebürtige Französin Alice Greenhill: „Als Neuer Zirkus in den 1970er-Jahren in Frankreich entstanden ist, das war parallel zu der Bewegung vom Mai 68. Im neuen Zirkus, im zeitgenössischen Zirkus geht es nicht um immer mehr und immer höher.“
In Frankreich hat sich die Kunstform durchgesetzt, mit Förderprogrammen, Spielstätten und Ausbildungseinrichtungen. Hierzulande soll „Zeit für Zirkus“ eine ähnliche Entwicklung befördern.
Langjähriger Entwicklungshelfer ist der Kinder- und Jugendzirkus Schatzinsel. Seit 1994 gibt es ihn, damals noch unter dem Namen Cabuwazi. Aktuell trainieren auf einem idyllisch gelegenen Gelände unweit der Spree im Berliner Bezirk Kreuzberg jede Woche 150 Kinder und Jugendliche. 15 verschiedene AGs gibt es: Jonglage und Luftartistik, eine Zaubergruppe, Akrobatik, Einradfahren.
Vier Mädchen zwischen 11 und 13 Jahren üben gerade am Vertikaltuch. Sie klettern in die Höhe und schlingen sich dabei im Textil fest. Hoch über dem Kopf der Trainerin vollführen sie Rollen und andere Kunstfiguren. Sie bereiten ein neues Stück vor.
„Es geht um eine Professorin und Spinnen, weil es soll einen Alptraum darstellen. Und die Professorin hypnotisiert die Spinnen. Und dann sind sie aus der Hypnose raus und wollen das der Professorin heimzahlen.“ Erzählt Alma. Sie spielt die Professorin. Das Stück soll im Dezember fertig sein.

Vorreiter des neuen Zirkus

Bei Zeit für Zirkus zeigt die Schatzinsel die Show „Verwundbar“. In die Show sind eigene Erfahrungen der Jugendlichen über Verletzungen und Verletzbarkeiten eingeflossen. Wegen der Verbindung von Erzählungen und artistischen Elementen ist der Kinder- und Jugendzirkus ganz automatisch ein Vorreiter des Neuen Zirkus.
In jüngster Zeit öffnet sich auch die einzige staatliche Artistenschule in Deutschland dem Neuen Zirkus. Jens Becker, Artistiklehrer an der Berliner Artistenschule:
„Ich denke, dass wir auf dem Weg sind hier an der Schule in Richtung zeitgenössischer Zirkus. Wir versuchen da auch die Bewertungskriterien von Anfang an umzuschreiben, um eben auch die relevanten Ausbildungsbereiche für den zeitgenössischen Zirkus in die richtige Richtung zu schieben.“
Einen Teil der relevanten Ausbildungsbereiche gibt es längst an der Schule. Sie bildet auch Tänzerinnen und Tänzer aus.
Neuester Entwicklungsschritt ist die Nuit du Cirque. Es soll sie jedes Jahr im November geben, und immer drei Tage und Nächte lang, wünscht sich Anke Politz vom Berliner Chamäleon.

 „Der November ist so grau, der braucht ganz viele bunte Zirkusfarben.“

Anke Politz vom Berliner Chamäleon

Abonnieren Sie unseren Weekender-Newsletter!

Die wichtigsten Kulturdebatten und Empfehlungen der Woche, jeden Freitag direkt in Ihr E-Mail-Postfach.

Vielen Dank für Ihre Anmeldung!

Wir haben Ihnen eine E-Mail mit einem Bestätigungslink zugeschickt.

Falls Sie keine Bestätigungs-Mail für Ihre Registrierung in Ihrem Posteingang sehen, prüfen Sie bitte Ihren Spam-Ordner.

Willkommen zurück!

Sie sind bereits zu diesem Newsletter angemeldet.

Bitte überprüfen Sie Ihre E-Mail Adresse.
Bitte akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung.
Mehr zum Thema