Zitronen gegen Tränengas

Von Luise Sammann |
Mit Tränengas geht die Polizei in Istanbul gegen Demonstranten vor. Ministerpräsident Erdogan will sich den Protesten nicht beugen. Doch die Demonstranten wollen zeigen, dass es noch eine andere Hälfte der türkischen Bevölkerung gibt. Die 50 Prozent, die Erdogan nicht gewählt haben.
Es ist heiß in Istanbul, der Sommer hat längst begonnen. Eylem steht der Schweiß auf der Stirn, als sie mit zwanzig anderen Männern und Frauen durch die engen Gassen im Uferviertel Besiktas rennt. Trotzdem zieht sie im Laufen noch eine Jacke über, die schwarzen Locken verschwinden unter eine dunkle Wollmütze.

Eylem: "Wir gehen, um den Taksim-Platz zurückzuerobern. Wir schützen uns mit Schals gegen das Tränengas und schmieren uns mit Creme ein. Außerdem tragen wir Taucherbrillen ... Sie versuchen uns vom Platz fernzuhalten, genau deswegen gehen wir dorthin."

Eylem kneift die Augen zusammen, drückt die Taucherbrille fest an. Die Stelle, an der Demonstranten und Polizisten seit Stunden aufeinanderprallen, ist jetzt nicht mehr weit. Man hört es, aber man spürt es auch: Seit Tagen hängt eine Wolke von Tränengas über Besiktas.

Demorufe

Und dann sind sie plötzlich da. Tausende Istanbuler haben sich auch heute wieder auf den Weg gemacht. Junge, Alte, manche mit konservativem Schnauzbärtchen, manche mit Che-Guevara-T-Shirts ... Längst hat die Regierung die Polizeitruppen aus dem Park abgezogen, in dem alles begann. Wo bereits die ersten Bäume gefällt wurden. Weil hier eine schicke Shoppingmall entstehen soll. Doch die Demonstranten - sie gehen nicht. Sie werden immer mehr.

Demonstrant Bulut: "Was uns hierhergetrieben hat, war nicht nur der Park, sondern es war der gewalttätige Polizeieinsatz. Die Szenen, die sich hier in den letzten Tagen abgespielt haben, machen einen verrückt. Dafür muss jemand bezahlen - und wir sind hier, um das zu fordern."

Säure hilft bei Tränengas
Bulut laufen die Tränen über das Gesicht, während er spricht. Mit Mühe hält er sich auf den Beinen, lässt sich von seiner Freundin eine Zitronenhälfte in die Augen reiben. Säure hilft bei Tränengas, so haben sie es in den letzten Tagen gelernt. Straßenverkäufer mit Kisten voller Zitronen schieben sich durch das Gedränge, preisen ihre Ware an. Eine Lira das Stück.

Demonstrant Bulut: "Ich war noch nie in meinem Leben auf einer Demonstration. Aber wir haben endgültig genug, und dass müssen wir zeigen."

Die Freundin schmeißt die ausgequetschte Zitrone auf den Boden, wo schon unzählige andere liegen. Die pink lackierten Nägel, die verschmierte Wimperntusche: Auch sie sieht nicht wie jemand aus, der regelmäßig demonstrieren geht.
Architektin: "Hier sind Leute aus allen Schichten unterwegs, mit unterschiedlichen Einstellungen und Ideen. Sogar solche, die bei den letzten Wahlen noch für diese Regierung gestimmt haben ..."

Dann plötzlich bricht Panik aus. Die Polizei greift wieder an, Rauch steigt auf, die Demonstranten rasen in alle Richtungen davon, versuchen sich in Hauseingängen und Gemüseläden vor den beißenden Tränengaswolken zu schützen.

Von einem der Hauseingänge aus beobachten fünf junge Männer in weißen Kitteln das Chaos. In den Räumen hinter ihnen sitzen und liegen tränenüberströmte Demonstranten auf dem Boden, einem wird gerade die blutende Hand verbunden, ein anderer humpelt mit einer Krücke hinaus. Eine Gruppe von Medizinstudenten und Assistenzärzten hat sich per Twitter zusammengefunden, hier aus einem ehemaligen Labor eine Notfallklinik für verletzte Demonstranten gemacht.

Arzt: "Wir leisten hier Erste Hilfe und fahren außerdem mit Motorrädern los, um draußen zu helfen. Nicht nur das Tränengas verletzt, sondern auch die Kapseln selbst, wenn man sie zum Beispiel an den Kopf kriegt. Wir haben deswegen viele Gehirnerschütterungen im Moment. Ansonsten vor allem Brandwunden um Augen und Mund."

Ärzte sind rund um die Uhr im Einsatz
Zwei Tote haben die Demonstrationen bisher gekostet, damit es keine weiteren gibt, sind die werdenden Ärzte rund um die Uhr im Einsatz. Für schwere Fälle organisieren sie den Weitertransport ins Krankenhaus.

Arzt: "Die Krankenwagen sind so voll, oft liegen drei Verletzte zusammen in einem. Wenn ich einen Krankenwagen rufe, kommt er oft nicht an, weil er auf dem Weg so viele andere Patienten einladen muss ..."

Der junge Mann guckt auf sein Handy. Ein Einsatz. Er zieht einen Motorradhelm über und rennt auf die Straße. Es geht hinauf zum Taksim-Platz, an den Ort, an dem alles begann ...

Dort haben sich inzwischen wieder Zehntausende versammelt. Einige versuchen einen Fernsehübertragungswagen umzuschubsen, andere haben "gekaufte Medien" auf die Windschutzscheibe gesprüht. Ein Student filmt die Szene, lädt die Bilder danach direkt auf seine Facebookseite hoch.

Demonstrant: "Wir sind besonders auf die türkischen Medien wütend. Die tun so, als ob nichts wäre. Während Medien in der ganzen Welt über die Türkei berichten, tun unsere so, als ob nichts wäre."

Ein anderer Mann stimmt ein. Dass die meisten Medien im Land auf Erdogans Seite stehen, ist kein Geheimnis in der Türkei. Dieser Tage aber wird es so deutlich wie nie.

Demonstrant: "Sie zeigen weiter bunte Magazine und Serien im Fernsehen. Aber hier werden Menschen verletzt! Sie erwähnen höchstens, dass es Proteste gibt. Aber das reicht nicht! Sie müssen endlich erklären, was die Leute wollen und warum sie hier sind ..."

Und warum sind sie hier? Der Mann sucht aufgeregt nach Worten. "Mehr Freiheit" bringt er schließlich heraus. Und: "Sich nicht mehr mit Alkoholverboten, Studentenverhaftungen und Polizeigroßeinsätzen einschüchtern lassen."

Um einen Park geht es längst nicht mehr in Istanbul. Die Demonstranten wollen zeigen, dass sie da sind, dass es noch eine andere Hälfte der türkischen Bevölkerung gibt. Die 50 Prozent, die Erdogan bei den letzten Wahlen nicht gewählt haben - und die jetzt wieder in den Schlachtruf der letzten Tage anstimmen: Hükümet Istifa - Regierung tritt zurück!
Tausende Menschen versammelten sich heute in Istanbul
Der Schlachtruf der letzten Tage: Regierung tritt zurück!© picture alliance / dpa / EPA / Sedat Suna
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