Zivilcourage

"Wir wollen keine Sozialrambos"

Demonstranten nehmen an einer Kundgebung zum Gedenken an die Studentin Tugce teil.
Nach dem Fall Tugce gibt es eine Debatte über Zivilcourage (hier Demonstranten bei einer Kundgebung in Berlin). © dpa / picture alliance / Maurizio Gambarini
Kai Jonas im Gespräch mit Nana Brink |
Plötzlich gibt es eine Prügelei - was tun? Nicht darauf einsteigen, rät der Konflikttrainer Kai Jonas. Klüger sei es für Unbeteiligte, ein wenig dumm zu tun, den Täter zu ignorieren und sich ganz auf das Opfer zu konzentrieren.
Nana Brink: Wenn sie nicht eingegriffen hätte, würde heute Tugce nicht beerdigt werden. Vor über zwei Wochen hat die junge Frau zwei Mädchen gehört, wie sie von einem jungen Mann belästigt worden sind. Sie schritt ein und wurde danach, als schon fast alles geklärt schien, von einem 18-Jährigen niedergeschlagen. Aus dem Koma sollte sie nicht mehr aufwachen. Ob sich alles wirklich so abgespielt hat, klärt die Polizei gerade noch, aber das Schicksal von Tugce bewegt nicht nur in Offenbach Tausende.
Überall gab es Mahnwachen für die junge Studentin, und viele von uns fragen sich, wie soll man reagieren in so einer Situation? Einschreiten oder wegducken? Kai Jonas ist Sozialpsychologe an der Uni Amsterdam, hat jahrelang selbst Kurse zu Zivilcourage geleitet. Guten Morgen, Herr Jonas!
Kai Jonas: Guten Morgen aus Amsterdam!
Brink: Gestern haben wir im Programm unsere Hörer befragt zum Thema Zivilcourage, und unser Hörer Stefan Wellen sagte dazu dieses:
Einspielung O-Ton: Damals war ich in einer Großstadt unterwegs in einem nicht so guten Viertel, und da sind so vier junge Leute, sind auf einen jungen Mann losgegangen und waren den da am Treten und am Schlagen. Und da habe ich gar nicht lange überlegt, sondern ich bin dann direkt dazwischen gegangen. Und das hat die so erschrocken, also die Tür ging auf und es schaute eine Frau, und da habe ich direkt so gerufen, rufen Sie sofort die Polizei, die müssen hier abgeführt werden. Und hab halt auch richtig Lärm gemacht halt, und da waren die so erschrocken und haben sich dann auch ganz schnell verpisst. Und der Typ, den sie da bearbeitet haben, der war selber so erschrocken, und ist auch abgehauen.
Unser Hörer Stefan Wellen war das gestern. Herr Jonas, war das richtig, was er sagt, eine richtige Reaktion?
Jonas: Ich kann schlecht sagen, ob es richtig oder falsch war. Das, was er beschreibt, klingt aber alles sehr gut. Ich freue mich grundsätzlich, wenn Menschen eingreifen und den Mut zeigen. Wenn wir es jetzt dennoch mal analysieren wollen, was er gemacht hat, ist er unerwartet für die Täter eingegriffen. Er hat sich Verstärkung gesucht. Er hat eigentlich einen Fluchtraum geschaffen, den auch das Opfer genutzt hat. Das ist für manche Menschen überraschend, aber das ist eigentlich ganz gut, wenn man es jetzt pragmatisch betrachtet. Die Situation ist aufgelöst, das Opfer ist auch weg, es kann nichts weiter passieren. Also eigentlich hat er das ganz gut gemacht.
Brink: Zivilcourage ist ja oft ein Lippenbekenntnis. Bekommen Sie von fast jedem, aber wer weiß schon, was man wirklich tun soll?
"Man kann sich auf im Kleinen üben"
Jonas: Nun, Zivilcourage ist schwierig, und man muss auch selber an der Aufgabe wachsen. Man kann nicht erwarten, dass jeder sofort weiß oder auch jeder sofort in äußerst gewalttätige Situationen eingreifen kann und das auch tun sollte. Wir wollen keine Sozial-Rambos, und man kann sich auch im Kleinen erst üben und dann vielleicht erst in diesen wirklich sehr schweren Situationen eingreifen. Wie man das macht, kann man auch lernen.
Brink: Wie kann man das lernen? Sie haben ja lange Jahre Erfahrung darin, Sie haben Kurse gegeben.
Jonas: Es gibt interessanterweise Menschen, die haben quasi so eine Art natürlichen Instinkt. Das hat auch ein bisschen damit zu tun, wie man aufwächst, wo man aufwächst, wie viel Konflikte man mitgemacht hat und wie man auch vielleicht gelernt hat, instinktiv Konflikte zu lösen. Viele Menschen haben das aber nicht. Die haben diese Straßenschlauheit vielleicht nicht mitgemacht, also bringen die nicht mit. Man kann Kurse belegen, und man kann sich selbst schulen, auch zu überlegen, was will ich, wo will ich eingreifen, bei welchem Thema, welche Sachen sind mir wichtig, und wie kann ich das machen. Und das können wir natürlich Menschen beibringen.
Brink: Und wie kann ich das machen? Wenn wir noch mal das Beispiel unseres Hörers, der ja eine bestimmte Sache auch schon gezeigt hat?
Jonas: Was der Hörer gemacht hat, ist etwas, was wir auch immer wieder versuchen, beizubringen, das ist eine Art paradoxe Intervention. Wenn Sie sich jetzt Situationen vorstellen, ein Täter oder ein Aggressor geht auf ein Opfer los, dann besteht da so eine Art Magnetfeld, und das Opfer ist häufig hilflos, weiß auch nicht, was es in der Situation macht. Es kommt überraschend. Wenn ich dazwischen gehe, aber diesen Konflikt als solchen erst einmal negiere, dann entsteht ein Öffnungsmoment, in dem ich diese Situation, ohne dass ich das weiter eskaliere, lösen kann.
Also, ein einfaches Beispiel: Wir hatten mal eine Rollstuhlfahrerin, die eigentlich sagte, ich kann das gar nicht, ich habe überhaupt nicht die Möglichkeit. Die kam dann aber später zu uns zurück und erzählte von einer Situation in der S-Bahn, im öffentlichen Personennahverkehr, dass auch eine Gruppe von Männern oder Jungen einen anderen Jungen bedrängt hat. Und sie hat gesagt, das einzige, was ich gemacht habe, ich bin mit meinem Rollstuhl dorthin gerollt und habe mich wahnsinnig tölpelhaft angestellt und bin jedem über die Füße gefahren, und irgendwann waren die so entnervt, dass sie ausgestiegen sind.
Brink: Aber das bedeutet ja schon einigen Mut. Also, wenn ich mir das jetzt mal vorstelle, wenn ich selber mich in einem Rollstuhl befinde, mich so einer Situation auszusetzen.
Ein junger Mann hebt seine geballte Faust
Mann mit geballter Faust: Wer unbeteiligt in eine Streit gerät, sollte sich auf das Opfer, nicht auf den Täter fokussieren, sagt der Psychologe Kai Jonas.© dpa / picture alliance / Karl-Josef Hildenbrand
Jonas: Sie hat gesagt, in diesem Fall ging es für sie nicht um Mut, sondern sie sagte, ich musste irgendwas machen, um das zu stören. Die paradoxe Intervention negiert ja den Konflikt. Sie geht ja nicht rauf und sagt jetzt zum Täter, hör mal, was du machst, ist nicht gut, sondern sie unterbricht ja das Handeln und führt ein komplett neues und überraschendes Element ein. Und das kann schon sein, dass man dazwischen geht und sagt, hört jetzt auf. Und eine andere Person, was der Hörer auch gemacht hat, ansprechen und sagen, ich rufe jetzt die Polizei, das ist so viel Aktivität, womit viele Täter häufig nicht rechnen. Die Polizei sagt auch gern: 'Die Täter scheuen Licht, Lärm und Leute.' Nun, wenn irgendwie so etwas in eine Situation rein kommt, dann lassen viele Täter von ihrem Tathandeln ab.
Brink: Was kann ich noch tun? Haben Sie noch Beispiele?
Jonas: Sie haben eine ganz große Plethora von Möglichkeiten. Ganz zentral ist, viele Männer versuchen, sich auf die Täter zu richten. Frauen intervenieren häufig schlauer und finden so kleine Lücken und richten sich eher auf das Opfer. Was wir immer sagen: Opferfokus anstelle von Täterfokus. Ein Täterfokus macht es möglich, dass die Situation eskaliert, und dann weiß man nicht ganz genau, wo das Ganze endet, wie stark ein Täter ist, ob ein Täter noch eine Waffe hinzuzieht, die man vielleicht im ersten Fall nicht sieht, und wo der Täter auch im ersten Moment gar nicht die Waffe benutzen will.
Wenn ich mich sofort auf das Opfer konzentriere und in eine Situation hineingehe und sage 'Ach, wir haben uns ganz lange nicht gesehen, lass uns doch jetzt sofort einen Kaffee trinken gehen' und das Opfer aus der Situation herausziehe und mit dem Opfer flüchte, habe ich den Täter negiert, habe nicht gesagt, was du machst, lieber Täter, ist böse, sondern ich habe nur versucht, die Situation aufzulösen und bin aus der Situation herausgegangen.
Brink: Also so ein Ablenkungsmanöver, könnte man sagen.
"Und dann hat er ganz laut gepupst"
Jonas: Man kann sagen, es ist ein Ablenkungsmanöver. Wir haben auch einen wunderschönen, sozusagen jüngeren Teilnehmer aus dem Training jetzt in der kürzeren Vergangenheit gehabt – das mag absurd klingen, hat die Situation aber gelöst. Der sagte, ihn regte das wahnsinnig auf, dass auf einer Familienfeier ab einem bestimmten Zeitpunkt, wenn Alkohol getrunken war, bestimmte ältere Erwachsene immer frauenfeindliche und fremdenfeindliche Witze machen. Und er hat da schon mal was gesagt, aber er wurde halt nicht für voll genommen. Und dann hat er gesagt, bei der letzten Familienfeier hat ihn das so geärgert, er wusste aber nicht, was er machen sollte, und dann hat er ganz laut gepupst.
Das mag absurd klingen, aber in dem Moment haben alle Leute auf ihn geguckt, die Witze hörten auf, man hat gelacht. Es ist eine pragmatische Lösung der Situation. Und das ist das ganz Zentrale in der Zivilcourage: Wir müssen nicht die großen Lösungen haben, wir müssen nicht die Täter immer zur Polizei bringen, sondern das Wichtige ist, die Situation zu unterbrechen für die Opfer oder die manchmal auch nicht anwesenden Opfer einen Fluchtraum zu erzeugen und den ganz geschickt zu nutzen.
Wichtig ist, sich Verbündete dafür zu suchen, gerade in Gewaltsituationen Menschen direkt anzusprechen. Wenn man den Namen nicht kennt, identifizierbar machen: Sie mit dem blauen T-Shirt, mit der grünen Jacke, Sie gehen jetzt sofort mit mir mit. Eine andere Person ansprechen: 'Sie kümmern sich um die Polizei, Sie rufen die Polizei!' Und auch absprechen, wo man sich nach der Aktion wieder zusammentrifft und gemeinsam die Situation verlässt, um auch geschützt zu sein, falls ein Täter doch noch sich überlegen sollte, die Menschen, die eingegriffen haben, selbst anzugreifen.
Brink: Kai Jonas ist Sozialpsychologe an der Uni Amsterdam und hat viel Erfahrung im Training, Zivilcourage, dass man auch lernen kann, ganz praktisch. Schönen Dank, Herr Jonas!
Jonas: Herzlichen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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