"Zölibat ist nicht die Ursache"

Andreas Tapken im Gespräch mit Matthias Hanselmann |
Der Psychologe und Therapeut Andreas Tapken, Regens im Erzbistum Münster, warnt davor, das Gebot der Enthaltsamkeit für katholische Priester in Verbindung mit sexuellem Missbrauch von Minderjährigen zu bringen. Derartige Vorfälle gebe es in der gesamten Gesellschaft. Das Problem sei eher eine emotionale Unreife, so Tapken.
Matthias Hanselmann: Die kürzlich bekannt gewordenen Fälle sexuellen Missbrauchs im Canisius-Kolleg in Berlin und an anderen katholischen Schulen haben die Diskussion über den Umgang mit Sexualität in der römisch-katholischen Kirche allgemein wieder entfacht.
Dabei geht es auch immer wieder um den Zölibat, das Gebot der Enthaltsamkeit für katholische Priester, das auch bei vielen Katholiken heftig umstritten ist. Darüber, wie angehende Priester auf den Zölibat, auf ihren zukünftigen Umgang mit Sexualität überhaupt vorbereitet werden, habe ich mit Dr. Andreas Tapken gesprochen. Er ist Regens im Erzbistum Münster und selbst Ausbilder für Priester, dazu Psychologe und Therapeut. Zunächst wollte ich wissen, was ihn in diesen Tagen der immer neuen Nachrichten über Missbrauchsfälle an Jesuiten-Schulen bewegt.

Dr. Andreas Tapken: Mich bewegt vor allem die Frage, wie sehr das eventuell auf das Bild von Priestern insgesamt zurückwirken könnte, also: Wie werden Priester in der Öffentlichkeit wahrgenommen? Ich finde diese Situation, die da in Berlin in den 70er-, 80er-Jahren gewesen ist, diese missbräuchlichen Situationen schrecklich, mache mir aber auch Sorgen, dass Priester dadurch unter einen Generalverdacht gestellt werden könnten, was sehr, sehr ungerecht wäre. So schlimm diese Situationen sind, Priester sind eben nicht so insgesamt.

Hanselmann: Der Leiter des Berliner Canisius-Kollegs, Pater Klaus Mertes, hat Missbrauchsfälle an seiner Schule öffentlich gemacht, die allerdings rund ein Vierteljahrhundert zurückliegen. Hat er aus Ihrer Sicht richtig gehandelt?

Tapken: Ja, ich glaube, ja. Ich kann ein wenig nachvollziehen, warum man in den 70er-, 80er-Jahren vielleicht nicht offensiver mit diesen Situationen umgegangen ist. Ich glaube, dass in dieser Zeit auch in vergleichbaren anderen Situationen oder in Institutionen, etwa Schulen oder Sportvereinen, oder wo immer so ein Missbrauch geschehen ist, man sehr, sehr zurückhaltend war, weil man auch nicht wusste, wie man mit so etwas umgehen sollte. Heute weiß man, dass man offensiv solche Situationen ansprechen muss, auch um die Opfer zu schützen, um ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Und ich finde das sehr mutig und gut, wie er jetzt die Öffentlichkeit gesucht hat und auch den Ton, den er angeschlagen hat, ich finde den gegenüber den Opfern eigentlich sehr respektvoll. Obwohl das natürlich schwer ist, also das ist nicht leicht, was die Jesuiten da gerade auf sich nehmen.

Hanselmann: Warum glauben Sie, dass das in den späten 70ern, Anfang der 80er-Jahre schwieriger war, solche Fälle aufzudecken beziehungsweise darüber zu sprechen?

Tapken: Zum einen hat das damit zu tun, dass keine Institution, sei es nun die Kirche oder andere Institutionen des öffentlichen Lebens, das gerne hat, wenn Mitglieder oder Mitarbeiter so etwas tun, das fällt immer auf die ganze Institution zurück, und man schämt sich dafür. Deswegen geht keiner gerne mit so etwas in die Öffentlichkeit. Es hat glaube ich auch damit zu tun, das kann ich als Psychologe sagen, dass sich das Wissen um Missbrauch verändert hat. Noch vor 20, 25 Jahren ging man davon aus, dass Pädophilie etwa irgendwie geheilt und therapiert werden kann. Man hat also Leute, die Missbrauch begangen hatten, in eine Therapie genommen und häufig nach Auskunft der Psychologen, der behandelnden Therapeuten, gesagt: Okay, jetzt ist das im Griff und die können wieder zum Einsatz kommen. Das erklärt etwa auch, warum die Jesuiten noch anderen Schulen tätig waren, was man heute nicht mehr machen würde. Da hat sich das Wissen auch verändert: Heute weiß man, dass Pädophilie allenfalls irgendwie kontrolliert werden kann, aber nicht geheilt werden kann. Da hat sich ja doch das Fachwissen geändert, weswegen man heute auch bedeutend strenger durchgreift.

Hanselmann: Es wird jetzt wieder verstärkt über einen Zusammenhang zwischen dem Zölibat und dem Problem der Pädophilie diskutiert. Hermann Häring, er ist emeritierter Professor für katholische Theologie und Wissenschaftstheorie – übrigens verheirateter Vater von drei Kindern – er schreibt heute im Berliner "Tagesspiegel", das Problem der Pädophilie ließe sich nicht vom Problem des Zölibates und der Gesamtsituation trennen. Können Sie das nachvollziehen?

Tapken: Ich kann den Gedanken nachvollziehen, der wird auch häufig geäußert, ich halte ihn trotzdem nicht für richtig. Ich glaube, dass der Zölibat nicht die Ursache ist. Wenn Sie einmal die Zahlen nehmen, wie viel Menschen überhaupt missbraucht werden – man geht davon aus, dass ungefähr jede vierte Frau in ihrem Leben Missbrauch erfahren hat als junges Mädchen, und ungefähr jeder zehnte Mann – dann macht das deutlich, dass Missbrauch vor allem in den Familien geschieht durch Väter, Brüder, Onkel oder auch in allen möglichen anderen Institutionen – Kirche nicht ausgenommen, das muss man in aller Ehrlichkeit sagen. Aber man darf nicht ursächlich jetzt den Zölibat mit dem Phänomen Missbrauch in Verbindung bringen. Ich sehe eine andere Verbindung, die vielleicht mit dem Zölibat entfernt zu tun haben könnte: Es hat glaube ich gerade in der Vergangenheit immer wieder Situationen gegeben, wo Menschen sich für den priesterlichen Dienst interessiert haben, die emotional unreif waren und man das nicht erkannt hat; für die vielleicht auch irgendwie die Vermutung so im Raum stand: Ich finde da einen Raum, wo ich mich mit meiner Sexualität nicht auseinandersetzen muss, der irgendwie asexuell ist. Heute wissen wir, dass das völliger Quatsch ist und dass solche Leute vielleicht nie hätten Priester werden sollen. Da hat man vielleicht damals etwas unbesehen einfach Leute zum priesterlichen Dienst zugelassen, die nicht hätten zugelassen werden sollen. Aber das Problem heißt emotionale Unreife, nicht Zölibat.

Hanselmann: Dennoch beinhaltet der Zölibat Ehelosigkeit und das Versprechen, sich jeder Sexualität zu enthalten. Wie bereiten Sie denn die angehenden Priester darauf vor, keusch zu leben? Gibt es da bestimmte Programme oder Übungen?

Tapken: Ja. Wir thematisieren die Frage nach Sexualität, nach Liebesfähigkeit, nach emotionaler Reife sehr umfassend und immer wieder. Jemand, der Priester werden will, durchläuft in Deutschland heute ungefähr eine sieben- bis achtjährige Ausbildung. Das ist eine sehr, sehr intensive Zeit. Es gibt glaube ich wenig andere Berufe, wo eine so intensive persönliche Begleitung stattfindet wie in der Ausbildung von Priestern. Und wir bemühen uns um eine sehr persönlichkeitsorientierte Priesterausbildung. Das hat sich in den letzten 20, 30 Jahren auch maßgeblich geändert, muss man wirklich sagen. Persönlichkeitsorientierte Priesterausbildung heißt: Wir achten sehr auf die menschlichen Qualitäten, ziehen da auch Psychologen mit hinzu, wir achten darauf: Ist jemand emotional reif? Dazu gehört zum Beispiel: Ist jemand empathiefähig, kann er sich in eine andere Person hineinversetzen? Das ist ja genau die Problematik, die sie bei missbräuchlichen Personen finden, dass die sich eben nicht in das Empfinden und den Schmerz ihrer Opfer hineinversetzen können. Auf all das versuchen wir zu achten. Sie können natürlich nie ausschließen, dass jemand eventuell mal in eine Situation kommt, wo er so etwas tut. Das kann man nicht im Vorfeld diagnostizieren und sagen: Der wird irgendwann mal missbräuchlich werden. Aber wir bemühen uns, so gut es geht, darauf zu achten, dass wir reife, liebesfähige und emotional reife Menschen zum Priestertum zulassen und andere nicht.

Hanselmann: Wenn Sie sagen, liebesfähig, dann schließt sich die Frage an: Wohin sollen denn die Männer mit ihren sexuellen Impulsen? Wie sollen sie sie, sagen wir mal, kanalisieren, wenn noch nicht einmal Selbstbefriedigung ein erlaubter Weg ist?

Tapken: Ich glaube, dass Liebe ja nicht nur sich sexuell äußern kann. Also wer Priester wird, der verzichtet darauf, ganz ausdrücklich, seine Sexualität auszuleben. Aber er verzichtet ja gerade nicht darauf, ein liebender Mensch zu sein, jemand, der sich anderen Menschen zuwendet. Ich glaube, jede Sexualität, auch die eines Menschen, der in einer Partnerschaft, in einer Ehe lebt, muss ja irgendwie auch gestaltet werden. Auch da gibt es ja Phasen, wo ich vielleicht mal sexuell nicht aktiv sein kann aus irgendwelchen Gründen und muss trotzdem Formen finden, wie ich Liebe, Zuneigung ausdrücken kann gegenüber meiner Partnerin, gegenüber meinen Kindern und so weiter.

Hanselmann: Nur, Priester müssen das über viele Jahre hinweg durchhalten, sag ich mal ...

Tapken: Über viele Jahre, ja, lebenslang, wenn sie das als ihre Berufung empfinden. Da achten wir auch drauf: Weiß jemand, worauf er sich da einlässt? Kann jemand das wirklich als seine innerste Berufung empfinden, nicht als eine Regel, die ihm von außen aufgelegt wird, sondern kann er wirklich für sich ganz klar empfinden: Das ist meins! Aber dann geht es ja darum, dass er als Priester ständig mit Menschen zu tun hat und für diese Menschen da sein soll, ihnen Zuwendung entgegenbringt, aber auch eine Form von Zuwendung erfährt. Das ist ja ganz, ganz wesentlich. Es ist eine andere Form von Zuwendung als die intime sexuelle Zuneigung einer Partnerschaft, aber es geht um eine Form von Liebe, von Zuwendung, von Miteinander, von Dasein für Menschen.

Hanselmann: Sprechen Sie davon, dass diese Priester sexuelle Energie sozusagen umwandeln können in seelsorgerliche Zuneigung?

Tapken: Das klingt jetzt sehr leicht. So leicht ist das nicht.

Hanselmann: ... wird aber als Begründung durchaus öfter benutzt.

Tapken: Ja, irgendwo ist das Gleiche gemeint. Also es gibt aus der Psychologie den Begriff der Sublimierung, also dass Kräfte sexueller Natur, die ja auch nicht einfach so triebhaft da sind, so ist unsere Sexualität ja nicht, dass man einfach einen Trieb ausleben muss, sondern Sexualität ist etwas, was jeder Mensch gestalten muss und was eben auch ein zölibatär lebender Mensch gestalten muss, was man irgendwie verwandeln muss, sublimieren kann in eine andere Ausdrucksform von Liebe. Aber es ist nicht nur Verzicht, es geht um eine andere Form von Liebe, die für viele Menschen da ist, die eben keine sexuelle Ausdrucksweise findet, aber Liebe ist.

Hanselmann: Heißt das im Umkehrschluss, dass evangelische Geistliche, weil sie Frau und Kinder haben und sich um dieselben neben der Gemeinde noch kümmern müssen, vielleicht die schlechteren Seelsorger sind?

Tapken: Das glaube ich nicht. Jeder Mensch muss glaube ich so etwas erleben wie Personen, mit denen er näher verbunden ist. Das erleben auch katholische Priester etwa in Freundschaften mit anderen Priestern, mit Menschen, mit denen sie enger verbunden sind, und eben eine Zuwendung für viele Menschen. Und das ist bei einem evangelischen Pfarrer natürlich auch, der ist auch für seine Gemeinde, für die Menschen da, mit denen er arbeitet.

Hanselmann: Noch einmal zurück zur aktuellen Situation: Wie reagieren Sie als Ausbilder von Priestern – oder die Priesterausbildung allgemein – jetzt eigentlich auf die aktuellen Missbrauchsmeldungen?

Tapken: Ich kann hier für das Münsteraner Priesterseminar sprechen, wo ich die Priesterausbildung verantworte: Wir thematisieren das sehr offen in Gesprächen, die wir haben mit unseren Studenten. Das mache ich in Gruppengesprächen und so weiter. Jeder unserer Studenten hat einen persönlichen Begleiter, der in einem sehr vertraulichen Rahmen mit ihm spricht, und hat da Gelegenheit, Fragen, die sich für seine eigene Sexualität etwa ergeben, zu besprechen. Wir haben etwa in zwei Wochen, das war jetzt völlig unabhängig von diesen Ereignissen, einen Sexualberater eingeladen, der darüber spricht, wie man mit Nähe und Distanz umgeht, wie man schwierige Situationen dieser Art vermeidet, wie man ehrlich mit seiner eigenen Sexualität umgehen lernt. Also wir versuchen, Fachleute hereinzuholen, wir sprechen sehr offen und ehrlich über diese Fragen.

Hanselmann: Vielen Dank! Priesterausbilder, Psychologe und Psychotherapeut Doktor Andreas Tapken, Regens vom Erzbistum Münster, danke für das Gespräch!

Tapken: Herzlichen Dank!
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